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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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Traktate über die Nächstenliebe im frühen 16. Jahrh<strong>und</strong>ert — etwa der<br />

von Carlstadt — zeigen die immensen Probleme, die bestanden, wollte<br />

16<br />

man Leistungen im Rahmen der Moralökonomie, <strong>und</strong> seien es nur alltägliche<br />

Fre<strong>und</strong>lichkeiten, schildern. „Nicht für Gold, nicht für Prestige, nicht<br />

für spätere Gaben sollst du es tun", wird mit verschiedenen Formulierungen<br />

insistiert, um ex negativo das Geforderte klarzumachen.<br />

Dieser abgegrenzte Bereich von Leistungen unter Ausschluß des Marktes,<br />

den die französische Aufklärung als „virtues civiques" thematisierte,<br />

fand seine erste Thematisierung in den Städten der spätmittelalterlichen<br />

Toskana, in denen die Ideologie des „(il) commune" entstand. Im schon zu<br />

seiner Zeit berühmten Fresko der Stadthalle von Siena vom ,,buon" <strong>und</strong><br />

„mal guverno" wie in den Stadt-Verfassungen wurde das Erwünschte anschaulich<br />

dargestellt. Die Straßen sauber zu halten — auch wenn nach dem<br />

marktökonomischen Eigeninteresse irrational — gehörte dazu. Der Handelskapitalismus<br />

dieser Stadtstaaten blieb in diesen Dokumenten fast unerwähnt.<br />

Die Betonung der Bürgertugenden muß hier keine Verschleierung<br />

sein, denn die „commune" ist die Referenzstruktur für die generalisierte<br />

Reziprozität, die das Marktgeschehen einbettete.<br />

Jener Bereich von Austausch von Leistungen <strong>und</strong> Gütern, der weder<br />

durch staatliche noch durch Markt-Distribution bestimmt ist, verändert<br />

sich in seinem gerichteten Prozeß. In Schüben nimmt die Bedeutung der<br />

beschränkten Reziprozität, z.B. innerhalb von Verwandtschaftsbanden, ab,<br />

wird zugleich der monetäre Austausch illegitim, während die — anonyme —<br />

generalisierte Reziprozität zunimmt. Gegenüber dem Markt, in welchem<br />

der Zugang zu Gebrauchswerten an die eiserne Bedingung des Geldes geknüpft<br />

ist, erscheint so die Moralökonomie als möglicher Rückzugsraum.<br />

Wie jedem System ökonomischer Leistungen, so muß auch der Moralökonomie<br />

ein System sozialer Kontrolle entsprechen. Die staatliche Kontrolle<br />

spielt hier eine unbezweifelbare Rolle — doch dies ist vor allem eine<br />

sy<strong>mb</strong>olische: Standards zu definieren <strong>und</strong> Abweichungen als sanktionierbar<br />

zu erklären. Das gestreute Auftreten der meisten Handlungen erlaubt kaum<br />

effektive Sanktionen. Wichtiger ist die Zuweisung von Ansehen <strong>und</strong> Schande<br />

— ein Sanktionskomplex, der uns nur für vorindustrielle Gesellschaften<br />

wesentlich zu sein scheint. Die Angst, sich zu blamieren, „daß über einen<br />

geredet wird", ist wesentlich für die Einhaltung der ungeschriebenen Regeln.<br />

Der effektive Einsatz der Lehrenden in einer Fakultät zum Beispiel<br />

läßt sich nicht aus Furcht vor den Sanktionen des Beamtengesetzes erklären.<br />

Das, was als Engagement unbezahlt <strong>und</strong> unbezahlbar zur formalen<br />

Erledigung von Arbeit hinzukommt (eben nicht nur 'Dienst nach Vorschrift'<br />

ist), ist diesem formalen Sanktionssystem geschuldet.<br />

Weiter noch: Die moralischen Forderungen sind als internalisierte<br />

Zwänge (N. Elias ) in unser Denken hineingenommen. Dies gibt der Familie<br />

als Sozialisationsinstanz eine zusätzliche Aufgabe, wie nicht zuletzt an<br />

16<br />

Martin Luthers Familienschriften deutlich wird.<br />

Ehre <strong>und</strong> Schande setzen eine — virtuelle — Kommunikationsgemeinschaft<br />

als Projektionsfläche für ihre Wertungen voraus. Wenn diese in Par-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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