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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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Es sind nicht Gaben, um deretwillen man sie erhält, sondern richtige ausgehandelte<br />

Preise. Aus der oralen Tradition wissen wir, daß dies keine traditionellen<br />

Bräuche sind. Für Indien <strong>und</strong> Burma hat Myrdal gezeigt, wie das<br />

6<br />

Anwachsen der Korruption auf die Expansion der Warenökonomie folgte.<br />

Auch die Hilfe <strong>und</strong> Gnade der Götter sind käuflich — sogar in einem<br />

sehr extremen Maße. Es gibt keine Handlung eines „vodun-no" (Vodun-<br />

Priesters), die nicht käuflich ist. Sogar die Wissensweitergabe hat ihren<br />

Preis. Zum Teil ist die transzendentale Wirksamkeit der Rituale gerade an<br />

einen Geldpreis geb<strong>und</strong>en.<br />

Ähnliches gilt für die Familie. Der Brautpreis löste den Frauentausch<br />

ab. Nur auf erhebliche Geldtransfers gegründete Ehen sind legitim. Käufliche<br />

Liebe findet sich sogar schon in Dörfern.<br />

Venalität hat kein festes Bild. Extremformen, wie im heutigen Nigeria,<br />

wo Straßenräuber in Gegenwart der Opfer mit den Polizisten Korruptionssummen<br />

aushandeln, sind selten. Und doch sind solche Extreme zu nennen,<br />

weil sie eine erschreckende Version der Utopie mancher „public choice"-<br />

Theoretiker darstellen, die Gesellschaft in freie Käuflichkeit auflösen<br />

wollen.<br />

Ich könnte hierzu nun Parallelen aus dem Iran unter dem Schah <strong>und</strong> aus<br />

Khomeinis Agitation heranziehen, will mich aber doch auf ein uns näherstehendes<br />

Gebiet beschränken: Deutschland beim Ausbruch der großen<br />

Reformationsbewegung im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Der Geldumlauf war gering verglichen mit dem des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Große Teile der Landwirtschaft waren noch durch die Subsistenzproduktion<br />

dominiert (sog. Naturalwirtschaft). Auch diese partielle Beibehaltung<br />

von Subsistenzproduktion bei gleichzeitiger warenökonomischer Transformation<br />

finden wir in heutigen Entwicklungsländern. Andererseits hatte<br />

jedoch auch die Wirtschaft insgesamt einen Aufschwung erlebt. Und in<br />

diesem Aufschwung kam es zu analogen warenökonomischen Transformationen<br />

wie in heutigen Entwicklungsländern.<br />

Nicht nur agrarische <strong>und</strong> handwerkliche Güter wurden zu Waren, sondern<br />

auch Produktionsmittel, mit der für die zeitgenössischen Beobachter<br />

erschröcklichen Konsequenz, daß jemand Haus, Hof <strong>und</strong> Werkstatt verlieren<br />

konnte. Die allmähliche Durchsetzung des römischen gegen das germanische<br />

Recht — nach Luther eine keine h<strong>und</strong>ert Jahre alte Tendenz <strong>und</strong> von<br />

den aufrührerischen Bauern in den „12 Artikeln" als aktuelles Geschehen<br />

angeklagt — ist Ausdruck dieser Transformation.<br />

Ich will nun nicht behaupten, daß der Ablaß, die Einführung des römischen<br />

Rechts, der Verlust von Haus <strong>und</strong> Hof durch Kreditschulden, die Umorientierung<br />

von Bauern von der Gebrauchswertproduktion hin zur Marktproduktion<br />

u.a. erst Phänomene des ausgehenden 15. Jahrh<strong>und</strong>erts seien.<br />

Im Gegenteil: Diese warenökonomischen Transformationen sind zum Teil<br />

schon weitaus früher zu finden <strong>und</strong> haben schon mehrere Auf- <strong>und</strong> Abschwünge<br />

durchlebt. Entscheidend für meine Betrachtung ist jedoch, daß sie<br />

den Zeitgenossen der damaligen Jahrh<strong>und</strong>ertwende als ein rezentes Phäno-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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