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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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Die Vereinfachung findet zum einen auf der Abbildungsdimension statt.<br />

Niemand wird bestreiten, daß selbst ein vierfach ineinandergeschachteltes<br />

AGIL-Schema noch eine grobe Vereinfachung der Wirklichkeit ist. Nun ist<br />

Abstraktion, d.h. das Denken in Kategorien ohne unmittelbaren Bezug zur<br />

Alltagserfahrung, sicher unabweislich. Ebenso unabweislich für eine erklärungskräftige<br />

Theorie ist aber der Brückenschlag zurück zur Erfahrungsebene.<br />

Das AGIL-Schema, um bei diesem Beispiel zu bleiben, bezieht sich zwar<br />

auf Wirklichkeit, beansprucht aber keine deskriptive Gültigkeit, sondern<br />

dient eher als analytisches Ordnungsschema. Das ist in sich keineswegs zu<br />

kritisieren. Der Erkenntnisprozeß beginnt mit der kategorialen Ordnung<br />

der Welt; begriffliche Ordnungsschemata sind deshalb eigenständige wissenschaftliche<br />

Leistungen von hohem Wert. Das gilt auch für die Identifikation<br />

genereller Prinzipien, ob diese nun Interpenetration, Komplexitätsreduktion,<br />

Differenzierung oder Grenzziehung heißen. Aber wenn nicht einmal<br />

versucht wird, die Ordnungsschemata mit Empirie auszufüllen <strong>und</strong> die behaupteten<br />

Mechanismen <strong>und</strong> Entwicklungstendenzen an der Wirklichkeit<br />

zu überprüfen, dann bleibt die Theoriebildung auf halbem Wege stecken.<br />

Gleichzeitig vermitteln die umfassenden Abstraktionen leicht den falschen<br />

Eindruck, wir hätten die Struktur <strong>und</strong> Dynamik unserer Gesellschaften<br />

schon begriffen. Jeder, der in der bekannten systemtheoretischen Sprache<br />

argumentiert, meint wohl im Zweifelsfall, daß er über Wirklichkeit redet.<br />

Trotzdem können wir auf dieser Abstraktionsebene oft nicht mehr sicher<br />

sein, ob wir nicht nur in den Ästen semantischer Bäume herumturnen <strong>und</strong><br />

als eine Art Scholastiker des 20. Jhdts. die Glöckchen eines begrifflichen<br />

Glasperlenspiels klingen lassen. So kann es kommen, daß wir vielleicht nicht<br />

einmal merken, wie wenig wir z.B. die konkrete Binnenstruktur verschiedener<br />

funktioneller Teilsysteme — vielleicht mit Ausnahme des politischen —<br />

<strong>und</strong> ihre derzeitigen Veränderungstendenzen kennen. Ähnliches gilt für<br />

Prozesse wie die behauptete Verselbständigung von Teilsystemen, die Entwicklung<br />

spezifischer Teilrationalitäten oder auch die gegenläufige Tendenz<br />

der Interpenetration.<br />

Systemtheoretische Ansätze sind aber nicht nur durch das Maß ihrer<br />

Abstraktion von der Wirklichkeit, sondern auch durch eine in inhaltlicher<br />

Hinsicht selektive Perspektive gekennzeichnet. Parsons selbst, der hier eher<br />

in der Nachfolge Durkheims als Webers steht, war bekanntlich vom Problem<br />

sozialer Ordnung fasziniert. Seinem Ansatz ist immer schon kritisch entgegengehalten<br />

worden, daß er es kaum erlaube, Wandlungsprozesse, zumal<br />

solche, die mit Konflikten zu tun haben, adäquat zu behandeln. Daß Gleichgewichtsmodelle<br />

für die Analyse sozialer Prozesse durchaus fruchtbar sein<br />

können, hat Neil Smelser gezeigt. Was dagegen bei Parsons' Ansatz den<br />

15<br />

Zugang zur <strong>gesellschaftliche</strong>n Dynamik verstellt, ist die selektive Berücksichtigung<br />

normativer Strukturen. Dieser Strukturbegriff betont in erster<br />

Linie den Aspekt des relativ Stabilen statt der Besonderheit von Anordnungsmustern,<br />

<strong>und</strong> was die Beziehungen zwischen den Elementen des Ganzen<br />

betrifft, geraten vor allem normativ geregelte Interaktionen in den Blick.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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