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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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dem historischen Wandel unterworfen, sondern sie gibt für die historisch-<strong>gesellschaftliche</strong><br />

Entwicklung den Rahmen ab. Diese vollzieht sich unter diesem<br />

Blickwinkel als Entfaltung der jeweils institutionalisierten Umgangsweisen<br />

mit dem universellen Strukturproblem der gleichzeitigen Entscheidungs<strong>und</strong><br />

Begründungsverpflichtung. So gesehen kommt der Institutionalisierung<br />

wissenschaftlichen Handelns im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert eine wesentliche Schubkraft<br />

im <strong>gesellschaftliche</strong>n Rationalisierungsprozeß zu, weil mit der kritischen<br />

Prüfung von Alltagsüberzeugungen nach expliziten Kriterien der<br />

Geltung auf der einen Seite die Standards, Ansprüche <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />

rationaler Begründung explosionsartig gesteigert wurden, auf der anderen<br />

Seite aber auch angesichts der verschärften Kriterien rationaler Begründung<br />

die wie selbstverständlich geltenden Tradtitionen <strong>und</strong> Überzeugungen für<br />

die Rechtfertigung von lebenspraktischen Entscheidungen in den Strudel<br />

des Zweifels gerieten <strong>und</strong> entsprechend der Problemdruck für die Lebenspraxis<br />

stieg, anders gesprochen, das Individuum an Autonomie potentiell<br />

gewann, zugleich dafür aber auch den Preis höherer Inanspruchnahme <strong>und</strong><br />

Verantwortlichkeit zu entrichten hatte.<br />

Dies kann man sich am ehesten vergegenwärtigen, wenn man das Argument<br />

am Beispiel elementarer lebenspraktischer Entscheidungsprobleme<br />

durchspielt, die sich gr<strong>und</strong>sätzlich nicht auf technische Fragen oder auf<br />

Fragen der Geltung von Gesetzeshypothesen reduzieren lassen, sondern auf<br />

Fragen der Lebenspraxis selbst beziehen, bei denen die Dignität des Individuierungsentwurfs<br />

als Bestandteil individueller Handlungsautonomie selbst<br />

auf dem Spiel steht. Zu solchen Entscheidungsproblemen gehören ebenso<br />

elementare wie wissenschaftlich gr<strong>und</strong>sätzlich nicht beantwortbare Fragen<br />

wie: Soll ich eine bestimmte Person heiraten oder nicht? <strong>und</strong>: Soll ein Kind<br />

gezeugt werden oder nicht? Für den Menschen der primitiven oder traditionalen<br />

Gesellschaften sind dies höchstwahrscheinlich nicht wirklich bedrängende<br />

Fragen gewesen, die ihn in Entscheidungsnöte gebracht hätten. Ihre<br />

Beantwortung war quasi automatisch durch Sitte, Tradition <strong>und</strong> Konvention<br />

vorgegeben, so daß sie als belangvolle Entscheidungsprobleme nicht<br />

ins Bewußtsein traten. Gleichwohl mußte die tatsächlich getroffene Entscheidung<br />

gute Gründe in Anspruch nehmen können, wie die starke negative<br />

Sanktionierung von abweichenden Fällen gerade in diesen Gesellschaften<br />

zeigt. Aber die richtige Entscheidung war, den Einzelnen entlastend,<br />

schon in kollektiven Regeln vorgeprägt oder im Falle der Nachkommenschaft<br />

durch Begrenzung der Kontrollierbarkeit faktisch vorgegeben. Die<br />

strukturale Dialektik von Lebenspraxis drang gewissermaßen nicht bis ins<br />

individuelle Bewußtsein, das von ihr überfordert worden wäre, vor, sondern<br />

wurde auf der Ebene von Brauchtum, Sitte <strong>und</strong> den institutionalisierten<br />

Normen abgefangen. Aber sie war dennoch als universales Strukturproblem<br />

latent präsent. Anders gesprochen: Die Ausdifferenzierung des dialektischen<br />

Verhältnisses von Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft war noch nicht so<br />

weit gediehen, daß die widersprüchliche Einheit von Entscheidungs- <strong>und</strong><br />

Begründungszwang zu einem Problem der Bewältigung individueller Autonomie<br />

hätte werden können.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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