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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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keine scharf getrennten Merkmalsklassen, so als gäbe es Biographisches unabhängig<br />

von Sozialem. Etwas treffender wäre von „sozio-biographischen"<br />

Faktoren zu sprechen, wenn damit nicht ein neues Sozio-Kompositum geschaffen<br />

würde, deren wir allemal zuviel haben (die Biologie mit dem Soziostempel<br />

ist der gräßlichste Sproß dieser imperialistischen Heiratspolitik).<br />

Unter „chronischen Krankheiten" verstehe ich Krankheiten, „die entweder<br />

Ergebnis eines länger andauernden Prozesses degenerativer Veränderung<br />

somatischer oder psychischer Zustände sind oder die dauernde somatische<br />

oder psychische Schäden oder Behinderungen zur Folge haben"<br />

(Badura). 3<br />

II. Chronische Krankheit: Verletzung der sozialen Leiblichkeit <strong>und</strong> Re-<br />

Normalisierungsverfahren<br />

Jede Krankheit — ganz gleich, ob akut oder chronisch — beeinträchtigt in<br />

jeweils spezifischer Weise die Handlungskapazität des Kranken <strong>und</strong> reduziert<br />

somit auch seine Interaktionskapazität, m.a.W. der Kranke <strong>und</strong> seine<br />

soziale Umwelt sind von der Krankheit betroffen. Ich bezeichne diesen<br />

Verlust an Normalität, den beide Seiten in unterschiedlicher Weise zunächst<br />

erfahren, als Verletzung der sozialen Leiblichkeit. Dieser Begriff zielt also<br />

auf den Kranken, faßt aber nicht dessen individuelle Körperlichkeit, sondern<br />

seine Leiblichkeit als eine irreduzible soziale Größe. Die Verletzung<br />

der sozialen Leiblichkeit impliziert mehr als nur den vordergründigen Verlust<br />

einzelner Handlungspotentiale, sondern sie erstreckt sich auf die ganze<br />

„ Welt der natürlichen Einstellung"*, die „Alltagswelt" mit ihren stillschweigenden<br />

Normalitätsannahmen, bzw. „Idealisierungen". Die Unterbrechung<br />

alltäglicher Routinen führt zu deren Thematisierung in der Form von Problemartikulationen,<br />

das gesamte bislang implizite Lebenskonzept wird als<br />

Biographie thematisch. Daß die Verletzung der sozialen Leiblichkeit eine<br />

Bedrohung der Alltagswelt impliziert, wird u.a. deutlich, wenn relativ<br />

harmlose Akuterkrankungen bereits bei den Kranken Krisenphänomene<br />

hervorrufen.<br />

Es sind vor allem die Verletzungen von drei alltagsweltlichen Idealisierungstypen,<br />

die mir wichtig erscheinen. s<br />

1. Die Verletzung der Kooperationsidealisierung. Als eigentliche soziale<br />

Idealisierung umfaßt sie die Erwartung von verläßlicher Partizipation in<br />

Interaktionssituationen. Aufgr<strong>und</strong> der eingeschränkten Interaktionskapazität<br />

zerbricht diese Idealisierung. Dies äußert sich auch in Interaktions- <strong>und</strong><br />

Kommunikationsstörungen, die nicht einfach durch spezifische körperliche<br />

Funktionsverluste der jeweiligen Krankheit zu erklären sind.<br />

2. Die Verletzung der Idealisierung körperlicher Autonomie. Hier ist die<br />

Vorstellung durchbrochen, daß mein eigener Körper alleine aus sich selbst<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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