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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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zellen abgeschottet ist oder stark hierarchisiert ist, kann sie diese Leistungen<br />

nicht erfüllen.<br />

Jedoch auch dort, wo das Geld angeschlossen ist, kann die Moralökonomie<br />

zerstört werden: Willkür kann Verpflichtungen ablösen. Ungezügelte<br />

Gewalt erschlägt jede moralische Norm. Das, was im Iran mit dem Abdanken<br />

des Schahs an Abschaffung von Korruption, an Aufbau von Verläßlichkeit,<br />

an Schaffung einer neuen „umma" (Gemeinschaft der Gläubigen)<br />

zu wachsen schien, wurde unter Khomeini durch Einsatz von Willkür rasch<br />

liquidiert.<br />

Der zivilisatorische Prozeß im Sinne von Elias, der der Gewalt Zügel anlegt,<br />

ist nicht zu trennen vom Aufbau jenes unseren Alltag konstituierenden<br />

Systems des Austauschs von Gütern <strong>und</strong> Leistungen, das die Marktwirtschaft<br />

einbettet.<br />

Für sich genommen finden sich Kerne dieser Argumentation bereits in<br />

zwei alten Diskussionssträngen . Montesquieu diagnostizierte eine Konkomitanz<br />

von Marktexpansion <strong>und</strong> zivilisatorischem Schub. Er sprach von der<br />

17<br />

,,douceur" des Marktes. Durkheim nahm dies auf, akzentuierte aber nur<br />

einen der möglichen Zusammenhänge. Das Geschehen der formalen Wirtschaft<br />

erzwingt die Moralisierung. Bei Max Weber ist eher die andere Seite<br />

angesprochen. Daß der Roland (Sy<strong>mb</strong>ol des Rechts im Mittelalter) über<br />

den Markt wacht, ist Vorbedingung des Marktgeschehens. Der andere<br />

Strang führt von Sir Walpole über das Kommunistische Manifest bis zu<br />

Fred Hirsch. Das Marktgeschehen erodiert die Gesellschaft, zersetzt alle<br />

moralischen Bindungen. Jeder dieser Diskussionsstränge kann sich auf Evidenzen,<br />

kann sich auf Empirisches berufen. Dies muß so sein, denn beides,<br />

die Zersetzung durch Expansion des Warenprinzips wie die Einbettung<br />

in Moralökonomie <strong>und</strong> die Stützung durch zivilisatorisch gezügelte Staatsmacht<br />

(konkomitant zum Wachstum des Marktes), beides ist Ausdruck<br />

eines fluktuierenden Systems.<br />

Die funktionale Differenzierung von Wirtschaft gegen Gesellschaft<br />

(genauer: Sphäre der Warenökonomie gegen Sphäre der generalisierten<br />

Reziprozität) ist zwar produktiv, insofern sie einen neuen Systemtyp<br />

schafft, sie ist aber nicht absolut stabil. Das, was käuflich ist, könnte zu<br />

Teilen auch Gegenstand von Eigenproduktion <strong>und</strong> generalisierter Reziprozität<br />

sein. Das, was wir aus Gefälligkeit leisten, könnte auch käuflich sein.<br />

Da die beiden Verteilungssysteme in Teilbereichen konkurrieren könnten,<br />

ist die Grenzziehung zwischen ihnen nie vollständig plausibel (<strong>und</strong> hier liegt<br />

ein Problem, das sich praktisch nie dauerhaft lösen läßt; ein Problem auch<br />

für jede Prognose). Es gibt infolgedessen regelhaft Bewegungen zur Ausdehnung<br />

des Warentausch-Prinzips wie Bewegungen zur Zurückweisung<br />

dieser Expansion, zur Eindämmung des Warenprinzips oder gar zur Abschaffung<br />

der Warenökonomie. Die Oszillation zwischen diesen beiden<br />

Systemtypen erscheint so als eine Oszillation innerhalb eines bestimmten<br />

Gesellschaftstyps. Die Korruption von Ministern ebenso wie f<strong>und</strong>amentalistische<br />

Bewegungen (wie etwa bei den Grünen) erscheinen als Ausdruck<br />

der Fluktuation eines Systems — des Systems Marktgesellschaft.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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