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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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wurden, keine Stabilität durch Subsistenzproduktion mehr haben, erhoffen<br />

von der Gemeinschaft Stabilität <strong>und</strong> geregelten Zugang zu Liebe, Recht<br />

11<br />

<strong>und</strong> Gottes Gnade. Die Interessen dieser <strong>und</strong> anderer Gruppen überlappen;<br />

<strong>und</strong> das macht die Stärke der Bewegungen aus, die sich darauf stützen.<br />

Aus einer venalen Gesellschaft muß nicht zwangsläufig eine entfaltete<br />

Marktgesellschaft werden, sie kann auch in einer Zyklizität verharren, in<br />

welcher die Zunahme von Reichtum die Venalität vergrößert, bis es durch<br />

Selbst-Unterminierung zum Zusammenbruch kommt, <strong>und</strong> dann das gleiche<br />

Muster wieder beginnt. So erleben wir es etwa in Nigeria.<br />

Die Gesellschaften, die — wie Venedig — Markt- <strong>und</strong> Moralökonomie<br />

zugleich entwickeln, oder diejenigen, die — wie Frankreich <strong>und</strong> Deutschland<br />

— Seqenzen von Kommodifikation <strong>und</strong> Zurückdrängen des Warenprinzips<br />

erlebten, erreichten auf beiden Wegen eine systemische Differenzierung,<br />

die den Gebrauch des Geldes in bestimmten <strong>gesellschaftliche</strong>n Bereichen<br />

ausschloß, ihn illegitim machte.In diesen Bereichen gibt es aber weiterhin<br />

Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen. Sie werden nunmehr nach einem Prinzip<br />

vermittelt, welches die Wirtschaftsanthropologie generalisierte Reziprozität<br />

nennt (wir folgen darin Polanyi <strong>und</strong> Sahlins ).<br />

12<br />

Generalisierte Reziprozität ist eine Gabe oder Leistung, welche ohne<br />

konkrete Erwartung einer Gegengabe gegeben wird, in Erfüllung eines<br />

moralischen Anspruchs. Auf lange Sicht kann man selbst wieder Empfänger<br />

einer solchen Leistung werden — daher der Ausdruck Reziprozität. Es gibt<br />

jedoch keinerlei Aufrechnung.<br />

Daß man Verletzten hilft, daß man Abfall in Papierkörbe wirft, daß<br />

man Zugtüren selbst schließt, all das gehört für uns zu den Selbstverständlichkeiten<br />

des Alltags, wird nicht eigens als ökonomische Leistung erfaßt.<br />

Auch, daß ein Richter beim Entscheiden abwägt <strong>und</strong> nicht nach Bestechungsangeboten<br />

entscheidet, nehmen wir als normal an. Jedoch läßt sich<br />

nur das Entscheiden entlohnen <strong>und</strong> erzwingen. Die Mühe des Abwägens ist<br />

eine Leistung, die zu den „virtues civiques" zählt.<br />

Oft wird dies als traditioneller Stammesbrauch eingeführt. In den von<br />

mir untersuchten Fällen handelt es sich jedoch um eine strukturelle Innovation.<br />

(Auch dort, wo die Agitation nativistisch ist, ein Zurück zur „Gemeinschaft"<br />

der tribalen Epoche beschworen wird, wird eine strukturelle<br />

13<br />

Innovation geschaffen). Denn nicht nur bekannte <strong>und</strong> als Mit-Stammesglieder<br />

kontrollierbare Personen sollen diese Leistungen erbringen, sondern<br />

fremde, anonyme Personen, denen gegenüber keinerlei Aufrechnung möglich<br />

wäre. Dies muß Ängste vor einem Verströmen der Leistungen wecken.<br />

Die Definition von Grenzen der Gesellschaft ist dadurch erfordert . Diese<br />

14<br />

Grenzen — etwa der Begriff der teutschen Nation im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert —<br />

müssen weder nah sein noch klar definiert sein; wesentlich ist der Eindruck<br />

der geschlossenen Gestalt, den sie erzeugen. Der Struktur des anonymen<br />

Marktes für die Warenökonomie entspricht die Anonymität der Nation als<br />

Raum der Moralökonomie.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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