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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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über seine eigentlichen Anlässe hinauszuführen. Er äußert sich vor allem als<br />

ein Streit um Worte. Sprache wird zum Mittel des Kampfes. Dies ist für den<br />

Soziologen lehrreich, weil es ihn auf etwas stößt, das zu begreifen immer<br />

wieder lohnt: daß Wirklichkeit eine verfügte <strong>und</strong> verhandelte Fiktion ist,<br />

ein soziales Definitionsprodukt, das sich über die Gegenstände legt, sich von<br />

ihnen entfernt, ein Eigenleben beginnt, sich abschließt. Die große Wirkung<br />

des kleinen Reizes, den Terrorismus darstellt, macht diesen allgemeinen<br />

Sachverhalt am besonderen Fall hervorragend deutlich. Die Frage ist, warum<br />

dies am Beispiel des Terrorismus so deutlich wird <strong>und</strong> was es für diesen<br />

Fall am Ende auch für die Soziologie bedeutet.<br />

Terrorismus ist selber von Anfang an sy<strong>mb</strong>olisches Handeln. Seine Botschaft<br />

ist ein Angriff auf die sozialen Bestandsgarantien von Herrschaft,<br />

nämlich auf deren Legitimation oder — um es mit Max Weber zu sagen —<br />

auf ihr „Prestige der Vorbildlichkeit oder Verbindlichkeit" (Weber 1956,<br />

S. 23). Der Adressat dieser Botschaft ist das Bewußtsein der Massen. Es<br />

soll aufgerührt <strong>und</strong> verändert werden. Darum ist es nicht zufällig, daß die<br />

„Propaganda der Tat" von Terroristen so häufig mit Erläuterungen <strong>und</strong><br />

Rechtfertigungen, also mit Sprache, komplettiert wird. Der Terrorismus ist<br />

eine untypisch redselige Art von Kriminalität; er liefert die Metakommunikation<br />

über sein Handeln regelmäßig mit. In gewisser Weise ist auch dies ein<br />

Indiz seiner Schwäche. Der Rekurs auf Sprache ist im politischen Bereich<br />

ein Anzeichen dafür, daß es Defizite an Geld, Macht <strong>und</strong> Prestige gibt. Dies<br />

trifft nun auch auf politische Systeme zu, die von Terroristen angegriffen<br />

werden, insofern ihre Herrschaft der Zustimmung der Unterworfenen bedarf.<br />

Je mehr sie sich dieser Zustimmung ungewiß sind, umso mehr werden<br />

auch sie dazu neigen, Überzeugungsarbeit mit Hilfe von Sprachpolitik zu<br />

betreiben. Beiden Seiten geht es darum, das eigene Recht gegen das Unrecht<br />

des Gegners zu erklären.<br />

Bei dieser Konkurrenz geht es vordergründig <strong>und</strong> unmittelbar um Fragen<br />

der Benennung. Lassen sich bestimmte Sachverhalte in bestimmten<br />

Wörtern unterbringen, mit ihnen etikettieren? Darf z.B. die Praxis unserer<br />

Gefängnisse „Isolationsfolter" genannt werden? Ist Heinrich Böll ein „Sympathisant"?<br />

Die Entscheidung solcher Fragen ist folgenreich; sie bereitet<br />

Handlungen vor. Unabhängig davon wird an den Beispielen aber auch schon<br />

der Effekt erkennbar, der über die konkreten Situationen hinausführt, indem<br />

er sich kulturell verankert: Es geht nicht nur um die Anwendung von<br />

Wörtern, sondern auch <strong>und</strong> nachhaltiger um ihre Definition. Die Sprache<br />

selber wird verhandelt. Und je mehr sich der Konflikt um Terrorismus<br />

ausdehnt <strong>und</strong> vervielfältigt, umso mehr Sprache gerät in den Wirbel. Begriffe<br />

werden ausgedehnt oder eingeschränkt, erhalten positive oder negative<br />

Ladungen. Kapitalismus, Imperialismus, Faschismus, deutsch, Gewalt,<br />

Regelverletzung, Verfassungsfeind, Extremismus, links, rechts — all dies ist<br />

nachher nicht mehr das, was es vorher war. Und die <strong>gesellschaftliche</strong> Praxis<br />

sog. Ursachenforschung sorgt für eine Potenzierung der semantischen<br />

Umdispositonen. Das fängt z.B. bei Marxismus <strong>und</strong> „Frankfurter Schule"<br />

an <strong>und</strong> hört bei Wohngemeinschaften <strong>und</strong> Familie noch nicht auf.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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