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die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València

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Sonst lag oft, wie das ewig leere Fass <strong>de</strong>r Danai<strong>de</strong>n, vor meinem Sinne <strong>die</strong>s Jahrhun<strong>de</strong>rt, und mit verschwen<strong>de</strong>rischer<br />

Liebe goss meine Seele sich aus, <strong>die</strong> Lücken auszufüllen; nun sah ich keine Lücke mehr,<br />

nun drückte mich <strong>de</strong>s Lebens Langeweile nicht mehr.<br />

Nun sprach ich nimmer zu <strong>de</strong>r Blume, du bist meine Schwester! und zu <strong>de</strong>n Quellen, wir sind Eines Geschlechts!<br />

ich gab nun treulich, wie ein Echo, je<strong>de</strong>m Dinge seinen Namen.<br />

Wie ein Strom an dürren Ufern, wo kein Wei<strong>de</strong>nblatt im Wasser sich spiegelt, lief unverschönert vorüber<br />

an mir <strong>die</strong> Welt. (Schmidt, 1994: 51)<br />

Das erste Verstummen, bei <strong>de</strong>m man alles fin<strong>de</strong>t, wird ein<strong>de</strong>utig durch <strong>de</strong>n syntaktischen und lexikalischen<br />

Parallelismus <strong>de</strong>m zweiten Verstummen entgegengesetzt, bei <strong>de</strong>m man alles verliert.<br />

In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Zeilen wird <strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>r Lebenslust, <strong>de</strong>r Anteilnahme an <strong>de</strong>r Menschheit<br />

und <strong>de</strong>s Kontakts mit <strong>de</strong>r Natur dargestellt. Das muss also das zweite Verstummen sein. Wenn<br />

das erste Verstummen sein Gegenteil sein soll, dann muss es sich um <strong>die</strong> Vereinigung mit <strong>de</strong>r<br />

Natur han<strong>de</strong>ln, wo Hyperion fühlt, dass <strong>die</strong> Blume und er Geschwister sind, und dass er und <strong>die</strong><br />

Quelle eines Geschlechts sind. Das Wort „Eines“ wird großgeschrieben, und das be<strong>de</strong>utet bei<br />

Höl<strong>de</strong>rlin immer eine bewusste Hervorhebung, <strong>die</strong> bei <strong>die</strong>sem Wort in <strong>de</strong>r Regel auf <strong>die</strong> Einheit<br />

mit <strong>de</strong>m All hinweist.<br />

Dem Einflusse <strong>de</strong>s Meers und <strong>de</strong>r Luft wi<strong>de</strong>rstrebt <strong>de</strong>r finstere Sinn umsonst. Ich gab mich hin, fragte<br />

nichts nach mir und an<strong>de</strong>rn, suchte nichts, sann auf nichts, ließ vom Boote mich halb in Schlummer wiegen,<br />

und bil<strong>de</strong>te mir ein, ich liege in Charons Nachen. O es ist süß, so aus <strong>de</strong>r Schale <strong>de</strong>r Vergessenheit zu<br />

trinken. (Schmidt, 1994: 58)<br />

Hyperion <strong>de</strong>nkt an nichts mehr, vergisst sich selbst, verzichtet auf <strong>die</strong> Vernunft und <strong>die</strong> Sprache,<br />

und lässt sich im Wasser <strong>de</strong>r wortlosen Natur treiben. So wie <strong>die</strong> Luft steht das Wasser auch oft<br />

für <strong>die</strong> allgegenwärtige Gottheit, <strong>die</strong> gleichzeitig überall ist und an keinem Ort beson<strong>de</strong>rs, <strong>de</strong>nn<br />

sie ist ein Etwas, das unbemerkt alles umgibt, etwas, das das Leben ermöglicht und för<strong>de</strong>rt, etwas,<br />

das an einer kleinen Bucht endlich scheint, aber auf hoher See ein<strong>de</strong>utig unendlich ist, etwas<br />

Sanftes aber auch Gewaltiges, Gefährliches aber auch Lebenspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s.<br />

Wie eine Schwester, wenn aus je<strong>de</strong>r Ecke ein Geliebtes ihr entgegenkommt, und je<strong>de</strong>s gerne zuerst<br />

gegrüßt sein möchte, so war das stille Wesen mit Aug’ und Hand beschäftigt, selig zerstreut, wenn auf <strong>de</strong>r<br />

Wiese wir gingen, o<strong>de</strong>r im Wal<strong>de</strong>. (Schmidt, 1994: 66)<br />

Die Kommunikation zwischen Diotima und <strong>de</strong>r Natur erfolgte mit Auge und Hand, mit Geste<br />

und Miene, aber ohne Worte. Für Diotima war <strong>die</strong> Natur wie eine Schwester o<strong>de</strong>r wie eine Geliebte,<br />

so eng waren sie miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n.<br />

Wie oft hab’ ich meine Klagen vor <strong>die</strong>sem Bil<strong>de</strong> gestillt! wie oft hat sich das übermütige Leben und <strong>de</strong>r<br />

streben<strong>de</strong> Geist besänftigt, wenn ich, in selige Betrachtungen versunken, ihr ins Herz sah, wie man in <strong>die</strong><br />

Quelle siehet, wenn sie still erbebt von <strong>de</strong>n Berührungen <strong>de</strong>s Himmels, <strong>de</strong>r in Silbertropfen auf sie nie<strong>de</strong>rträufelt!<br />

(Schmidt, 1994: 68)<br />

Hyperion meint hier Diotimas Bild. Die „Klagen“ sind hier synonym für <strong>die</strong> 'Sorgen'. Die Klage<br />

ist eigentlich <strong>die</strong> sprachliche Ausdrucksweise einer Sorge bzw. eines Schmerzes für <strong>die</strong> Ohren<br />

eines an<strong>de</strong>ren Menschen. Das Adverb „still“ gilt hier sowohl für <strong>die</strong> Quelle als auch für Diotimas<br />

Herz, das erbebt, weil es lebendig ist, aber wortlos bleibt, weil es im Kontakt mit <strong>de</strong>m Himmel<br />

ist.<br />

Und nun kein Wort mehr, Bellarmin! Es wäre zuviel für mein geduldiges Herz. Ich bin erschüttert, wie ich<br />

fühle. Aber ich will hinausgehn unter <strong>die</strong> Pflanzen und Bäume, und unter sie hin mich legen und beten,<br />

dass <strong>die</strong> Natur zu solcher Ruhe mich bringe. (Schmidt, 1994: 84)<br />

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