22.11.2013 Aufrufe

die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València

die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València

die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

menschlichten Wesen, dass Worte hören und verstehen kann, wird präsupponiert, dass es auch<br />

sprechen kann. Aber <strong>die</strong> Er<strong>de</strong> schweigt still, das ist ihre Antwort.<br />

Nun schreib’ ich wie<strong>de</strong>r dir, mein Bellarmin! und führe weiter dich hinab, hinab bis in <strong>die</strong> tiefste Tiefe meiner<br />

Lei<strong>de</strong>n, und dann, du letzter meiner Lieben! komm mit mir heraus zur Stelle, wo ein neuer Tag uns<br />

anglänzt. (Schmidt, 1994: 137)<br />

Der neue Tag ist <strong>die</strong> Zukunft. Durch das Präfix „an“, das mit <strong>die</strong>sem Verb selten vorkommt, und<br />

durch <strong>die</strong> seltene Fügung mit einem Menschen als Objekt <strong>de</strong>s Verbs wird eine Annäherung o<strong>de</strong>r<br />

Kontaktversuch impliziert. Die Tätigkeit <strong>de</strong>s „Anglänzens“, genauso wie je<strong>de</strong>r Annäherungsversuch<br />

– z.B. das Anlächeln – präsupponiert Absicht <strong>de</strong>s Subjektes, und <strong>die</strong> Absicht präsupponiert<br />

auch wie<strong>de</strong>rum menschliche Züge. Die Natur bzw. <strong>die</strong> Zukunft spricht also Hyperion und Bellarmin<br />

ohne Worte durch einen beson<strong>de</strong>ren Glanz an.<br />

Es dämmerte mir wun<strong>de</strong>rbar in <strong>de</strong>r Seele bei seiner Re<strong>de</strong>.<br />

Der Bäume Gipfel schauerten leise; wie Blumen aus <strong>de</strong>r dunklen Er<strong>de</strong>, sprossten Sterne aus <strong>de</strong>m Schoße<br />

<strong>de</strong>r Nacht und <strong>de</strong>s Himmels Frühling glänzt’ in heiliger Freu<strong>de</strong> mich an. (Schmidt, 1994: 141)<br />

Alabanda hat sich gera<strong>de</strong> endgültig von Hyperion verabschie<strong>de</strong>t und ihm vorausgesagt, dass er<br />

noch glücklich sein wird. Dann dämmerte es Hyperion in seiner Seele. Anschließend folgt ein<br />

neuer Absatz, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r pragmatischen Regel <strong>de</strong>r Kohärenz etwas mit <strong>de</strong>m Vorigen zu tun haben<br />

muss. Die natürlichen Phänomene <strong>de</strong>s „Schauerns“ und <strong>de</strong>s „Glänzens“ haben an sich nichts<br />

mit <strong>de</strong>r menschlichen Sprache zu tun, so wenig wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Regung <strong>de</strong>r Natur. Das Adverb<br />

„leise“ behält hier seine doppelte Be<strong>de</strong>utung: einerseits 'wortlos', an<strong>de</strong>rerseits 'geräuschlos'. Es<br />

könnte gemeint sein, dass <strong>die</strong> Baumgipfel ohne Worte zu Hyperion sprechen wollten. Diese Auslegung<br />

wäre aber zu weit hergeholt, wenn nicht <strong>de</strong>r Satz folgen wür<strong>de</strong>, wonach <strong>de</strong>r Frühling Hyperion<br />

„in heiliger Freu<strong>de</strong>“ anglänzt. Diese Annäherung o<strong>de</strong>r Kontaktversuch wird durch das<br />

Präfix „an“ – wie oben angemerkt – impliziert. Die Freu<strong>de</strong> präsupponiert einen Menschen o<strong>de</strong>r<br />

Säugetier als Subjekt <strong>de</strong>s Gefühls, aber statt<strong>de</strong>ssen gibt <strong>de</strong>r Text <strong>de</strong>n Frühling an, welcher also<br />

personifiziert zu verstehen ist. Die Tätigkeit <strong>de</strong>s „Anglänzens“, genauso wie z.B. <strong>die</strong> <strong>de</strong>s Anlächelns,<br />

präsupponiert Absicht <strong>de</strong>s Subjektes, und <strong>die</strong> Absicht präsupponiert auch wie<strong>de</strong>rum<br />

menschliche Züge. Dies bestätigt <strong>die</strong> Vermenschlichung <strong>de</strong>s Frühlings. Die Natur spricht also<br />

Hyperion ohne Worte in <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>r Baumgipfel und <strong>de</strong>s Frühlingshimmels an.<br />

Denn du, Hyperion! hattest <strong>de</strong>inen Griechen das Auge geheilt, dass sie das Lebendige sahn, und <strong>die</strong> in ihnen,<br />

wie Feuer im Holze schlief, <strong>die</strong> Begeisterung hattest du entzün<strong>de</strong>t, dass sie fühlten <strong>die</strong> stille stete Begeisterung<br />

<strong>de</strong>r Natur und ihrer reinen Kin<strong>de</strong>r. (Schmidt, 1994: 144)<br />

Dies schreibt Diotima an Hyperion. Das Adjektiv „still“ behält seine doppelte Be<strong>de</strong>utung: 'friedlich'<br />

und 'wortlos'. Da <strong>die</strong> Natur begeisterungsfähig ist, und da sie <strong>die</strong> Mutter <strong>de</strong>r Menschen ist,<br />

muss sie hier als vermenschlicht verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Dann wäre es nur logisch, dass <strong>die</strong> Natur,<br />

wie <strong>die</strong> Menschen auch, <strong>de</strong>nen sie so sehr ähnelt, ebenfalls sprechen kann. Aber sie bleibt „still“.<br />

Sie teilt ihre Begeisterung ohne Worte mit.<br />

Bellarmin! Ich hatt’ es nie so ganz erfahren, jenes alte feste Schicksalswort, dass eine neue Seligkeit <strong>de</strong>m<br />

Herzen aufgeht, wenn es aushält und <strong>die</strong> Mitternacht <strong>de</strong>s Grams durchdul<strong>de</strong>t, und dass, wie Nachtigallgesang<br />

im Dunkeln, göttlich erst in tiefem Leid das Lebenslied <strong>de</strong>r Welt uns tönt. Denn, wie mit Genien, lebt’<br />

ich jetzt mit <strong>de</strong>n blühen<strong>de</strong>n Bäumen, und <strong>die</strong> klaren Bäche, <strong>die</strong> darunter flossen, säuselten, wie Götterstimmen,<br />

mir <strong>de</strong>n Kummer aus <strong>de</strong>m Busen. Und so geschah mir überall, du Lieber! – wenn ich im Grase ruht’,<br />

und zartes Leben mich umgrünte, wenn ich hinauf, wo wild <strong>die</strong> Rose um <strong>de</strong>n Steinpfad wuchs, <strong>de</strong>n warmen<br />

Hügel ging, auch wenn ich <strong>de</strong>s Stroms Gesta<strong>de</strong>, <strong>die</strong> luftigen umschifft’ und alle <strong>die</strong> Inseln, <strong>die</strong> er zärtlich<br />

hegt.<br />

111

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!