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die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València

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„still“ be<strong>de</strong>uten 'friedlich, idyllisch, geruhsam', aber zugleich gilt ihre zweite Be<strong>de</strong>utung auch:<br />

'lautlos, stumm'.<br />

Warum erzähl’ ich dir und wie<strong>de</strong>rhole mein Lei<strong>de</strong>n und rege <strong>die</strong> ruhelose Jugend wie<strong>de</strong>r auf in mir? Ist’s<br />

nicht genug, Einmal das Sterbliche durchwan<strong>de</strong>rt zu haben? warum bleib’ ich im Frie<strong>de</strong>n meines Geistes<br />

nicht stille?<br />

Darum, mein Bellarmin! weil je<strong>de</strong>r Atemzug <strong>de</strong>s Lebens unserm Herzen wert bleibt, weil alle Verwandlungen<br />

<strong>de</strong>r reinen Natur auch mit zu ihrer Schöne gehören. Unsre Seele, wenn sie <strong>die</strong> sterblichen Erfahrungen<br />

ablegt und allein nur lebt in heiliger Ruhe, ist sie nicht, wie ein unbelaubter Baum? wie ein Haupt ohne Locken?<br />

(Schmidt, 1994: 115)<br />

Die heilige Ruhe <strong>de</strong>s Lebens nach <strong>de</strong>m Tod ist sprachlos. Deswegen will Hyperion jetzt noch<br />

nicht still sein, <strong>de</strong>nn nur wer tot ist, bleibt ganz still. Das Substantiv „Ruhe“ hat hier seine drei<br />

Be<strong>de</strong>utungen: 'Bewegungslosigkeit, Frie<strong>de</strong>n, Sprachlosigkeit'.<br />

Glaube mir, wer <strong>die</strong>ses Land durchreist, und noch ein Joch auf seinem Halse dul<strong>de</strong>t, kein Pelopidas wird,<br />

<strong>de</strong>r ist herzleer, o<strong>de</strong>r ihm fehlt es am Verstan<strong>de</strong>.<br />

So lange schlief’s – so lange schlich <strong>die</strong> Zeit, wie <strong>de</strong>r Höllenfluss, trüb und stumm, in ö<strong>de</strong>m Müßiggange<br />

vorüber? (Schmidt, 1994: 117)<br />

Hyperion schreibt an Diotima in <strong>de</strong>n ersten Tagen <strong>de</strong>s Krieges, als er gera<strong>de</strong> im Peloponnes angekommen<br />

ist. Der „Höllenfluss“ ist <strong>die</strong> Lethe, <strong>de</strong>r Fluss, <strong>de</strong>n <strong>die</strong> gera<strong>de</strong> Gestorbenen laut <strong>de</strong>r<br />

antiken griechischen Sage überqueren müssen, um das Diesseits zu verlassen und ins Jenseits<br />

überzusetzen. Dabei verlor man <strong>die</strong> Erinnerung an das gera<strong>de</strong> vergangene Leben. Hyperion<br />

meint, wenn man <strong>die</strong> Erinnerung verliert, verliert man auch <strong>die</strong> Sprache und wird „stumm“. Das<br />

Adverb „stumm“ wird hier metonymisch statt 'stumm machend' benutzt.<br />

Lebe wohl! vollen<strong>de</strong>, wie es <strong>de</strong>r Geist dir gebeut! und lass <strong>de</strong>n Krieg zu lange nicht dauern, um <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns<br />

willen, Hyperion, um <strong>de</strong>s schönen, neuen, gol<strong>de</strong>nen Frie<strong>de</strong>ns willen, wo, wie du sagtest, einst in unser<br />

Rechtsbuch eingeschrieben wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Gesetze <strong>de</strong>r Natur, und wo das Leben selbst, wo sie, <strong>die</strong> göttliche<br />

Natur, <strong>die</strong> in kein Buch geschrieben wer<strong>de</strong>n kann, im Herzen <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> sein wird. Lebe wohl.<br />

(Schmidt, 1994: 129)<br />

Dies schreibt Diotima in ihrem letzten Brief an Hyperion. Die Gesetze <strong>de</strong>r Natur wer<strong>de</strong>n ihrer<br />

Meinung nach in ein Gesetzbuch geschrieben wer<strong>de</strong>n, aber <strong>die</strong> göttliche Natur selbst kann mit<br />

Worten gar nicht gefasst wer<strong>de</strong>n.<br />

Noch Einmal möcht’ ich wie<strong>de</strong>rkehren an <strong>de</strong>inen Busen, wo es auch wäre! Ätheraugen! Einmal noch mir<br />

wie<strong>de</strong>r begegnen in euch! an <strong>de</strong>inen Lippen hängen, du Liebliche! du Unaussprechliche! und in mich trinken<br />

<strong>de</strong>in entzückend heiligsüßes Leben – (Schmidt, 1994: 134)<br />

Diotima ist tot und Hyperion sehnt sich nach ihr. Für Hyperion ist sie aber noch lebendig, in einer<br />

an<strong>de</strong>ren, nicht körperlichen Form. Deswegen weiß er nicht mehr, wo er sie fin<strong>de</strong>n kann. Er<br />

meint, sie hat „Ätheraugen“ und ist „heiligsüß“. Diotima ist für Hyperion bekanntlich <strong>die</strong> Verkörperung<br />

<strong>de</strong>r Gottheit. Und <strong>die</strong> Gottheit ist jenseits menschlicher Sprache. Deswegen nennt er<br />

Diotima „unaussprechlich“.<br />

o Eigensinn <strong>de</strong>r Menschen! wie ein Bettler, hab’ ich <strong>de</strong>n Nacken gesenkt und es sahen <strong>die</strong> schweigen<strong>de</strong>n<br />

Götter <strong>de</strong>r Natur mit allen ihren Gaben mich an! (Schmidt, 1994: 140)<br />

Dies sagt Hyperion, nach<strong>de</strong>m er bereut, am Krieg teilgenommen zu haben. Die Götter waren in<br />

Kontakt mit ihm, <strong>de</strong>nn sie sahen ihn an und hatten Gaben für ihn. Aber sie sprachen nicht, sie<br />

schwiegen, obwohl sie da waren und vielleicht erwarteten, dass Hyperion sich endlich besinnt<br />

und seinen Blick an sie richtet, d.h. <strong>de</strong>n Kontakt zur göttlichen Natur wie<strong>de</strong>raufnimmt.<br />

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