die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
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Und wenn ich oft <strong>de</strong>s Morgens, wie <strong>die</strong> Kranken zum Heilquell, auf <strong>de</strong>n Gipfel <strong>de</strong>s Gebirgs stieg, durch <strong>die</strong><br />
schlafen<strong>de</strong>n Blumen, aber vom süßen Schlummer gesättiget, neben mir <strong>die</strong> lieben Vögel aus <strong>de</strong>m Busche<br />
flogen, im Zwielicht taumelnd und begierig nach <strong>de</strong>m Tag, und <strong>die</strong> regere Luft nun schon <strong>die</strong> Gebete <strong>de</strong>r<br />
Täler, <strong>die</strong> Stimmen <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> und <strong>die</strong> Töne <strong>de</strong>r Morgenglocken herauftrug, und jetzt das hohe Licht, das<br />
göttlich heitre <strong>de</strong>n gewohnten Pfad daherkam, <strong>die</strong> Er<strong>de</strong> bezaubernd mit unsterblichem Leben, dass ihr Herz<br />
erwarmt’ und all ihre Kin<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r sich fühlten – (Schmidt, 1994: 172)<br />
Die Natur ist hier nicht nur schön; sie tröstet und erfreut Hyperion nicht nur, son<strong>de</strong>rn sie ist auch<br />
<strong>die</strong> Trägerin einer Botschaft, durch <strong>die</strong> Hyperion etwas lernen soll, das er bisher so nicht erfahren<br />
hatte. Nur bei solcher Annahme kann <strong>de</strong>r Vergleich <strong>de</strong>r Naturerscheinungen, <strong>die</strong> selbstverständlich<br />
keine Worte sprechen, mit „Götterstimmen“ sinnvoll sein. Das Verb „beten“ präsupponiert<br />
als Subjekt einen Menschen. Da <strong>die</strong> „Täler“ nicht menschlich sind, wird impliziert, dass sie<br />
personifiziert zu verstehen sind. Zwar hat <strong>die</strong> Her<strong>de</strong> wirklich Stimmen und <strong>die</strong> Morgenglocken<br />
tönen auch tatsächlich, aber da <strong>die</strong>se bei<strong>de</strong>n im Kontext zu <strong>de</strong>n Gebeten <strong>de</strong>r Täler gezählt wer<strong>de</strong>n<br />
– wahrscheinlich als erklären<strong>de</strong> Apposition –, und da sie sonst oft zum höl<strong>de</strong>rlinischen Prototyp<br />
<strong>de</strong>r Sprache gehören, sind sie wohl nicht bloß als Landschaftsgeräusche aufzufassen, son<strong>de</strong>rn<br />
als <strong>die</strong> wortlose Sprache <strong>de</strong>r Natur.<br />
B.I.b.3.4. Die Natur als Sprache, welche <strong>die</strong> Menschen miteinan<strong>de</strong>r<br />
verbin<strong>de</strong>t<br />
Vollen<strong>de</strong>te! rief ich, ich spreche wie du. Am Sternenhimmel wollen wir uns erkennen. Er sei das Zeichen<br />
zwischen mir und dir, solange <strong>die</strong> Lippen verstummen.<br />
Das sei er! sprach sie mit einem langsamen nie gehörten Tone. (Schmidt, 1994: 115)<br />
Hyperion und Diotima wollen sich auf je<strong>de</strong>n Fall, sogar nach <strong>de</strong>m Tod, wie<strong>de</strong>r erkennen. Wenn<br />
<strong>die</strong> Lippen verstummen, präsupponiert man, dass <strong>die</strong> menschliche Sprache aufhört. Da soll <strong>de</strong>r<br />
Sternenhimmel ihnen als Zeichen <strong>de</strong>r Kommunikation <strong>die</strong>nen.<br />
B.I.b.3.5. Der göttliche Mensch als Sprache, welche <strong>die</strong> Natur<br />
mit <strong>de</strong>m Menschen verbin<strong>de</strong>t<br />
sie aber stand vor mir in wan<strong>de</strong>lloser Schönheit, mühelos, in lächeln<strong>de</strong>r Vollendung da, und alles Sehnen,<br />
alles Träumen <strong>de</strong>r Sterblichkeit, ach! alles, was in goldnen Morgenstun<strong>de</strong>n von höhern Regionen <strong>de</strong>r Genius<br />
weissagt, es war alles in <strong>die</strong>ser Einen stillen Seele erfüllt.<br />
Man sagt sonst, über <strong>de</strong>n Sternen verhalle <strong>de</strong>r Kampf, und künftig erst, verspricht man uns, wenn unsre<br />
Hefe gesunken sei, verwandle sich in e<strong>de</strong>ln Freu<strong>de</strong>nwein das gären<strong>de</strong> Leben, <strong>die</strong> Herzensruhe <strong>de</strong>r Seligen<br />
sucht man sonst auf <strong>die</strong>ser Er<strong>de</strong> nirgends mehr. Ich weiß es an<strong>de</strong>rs. Ich bin <strong>de</strong>n nähern Weg gekommen. Ich<br />
stand vor ihr, und hört’ und sah <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Himmels, und mitten im seufzen<strong>de</strong>n Chaos erschien mir<br />
Urania.<br />
Wie oft hab’ ich meine Klagen vor <strong>die</strong>sem Bil<strong>de</strong> gestillt! (Schmidt, 1994: 68)<br />
Diotima steht vor Hyperion und ihm ist, als ob er <strong>die</strong> höchste Schönheit <strong>de</strong>r göttlichen Natur vor<br />
Augen hätte. Sie spricht nicht, sie steht nur still da und lächelt. Ihre schöne Anwesenheit löst bei<br />
Hyperion <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Vorgang aus: Er empfängt <strong>de</strong>n göttlichen Frie<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> Herzensruhe,<br />
nach <strong>de</strong>r er sich gesehnt hatte. Die Ausdrücke „Da stehen“, „lächeln“, „schön sein“, „sehen“,<br />
„erscheinen“ und „Bild“ präsupponieren, dass es keine geschriebene noch gesprochene Sprache<br />
gibt, und implizieren, dass trotz<strong>de</strong>m eine bestimmte bildliche Botschaft vermittelt wird: <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong><br />
erwähnten Empfang <strong>de</strong>r Schönheit. Die Ausdrücke „sehnen“, „träumen“, „weissagen“, „su<br />
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