die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Wie oft hab’ ich meine Klagen vor <strong>die</strong>sem Bil<strong>de</strong> gestillt! wie oft hat sich das übermütige Leben und <strong>de</strong>r<br />
streben<strong>de</strong> Geist besänftigt, wenn ich, in selige Betrachtungen versunken, ihr ins Herz sah, wie man in <strong>die</strong><br />
Quelle siehet, wenn sie still erbebt von <strong>de</strong>n Berührungen <strong>de</strong>s Himmels, <strong>de</strong>r in Silbertropfen auf sie nie<strong>de</strong>rträufelt!<br />
(Schmidt, 1994: 68)<br />
Hyperion meint hier Diotimas Bild. Die „Klagen“ sind hier synonym für <strong>die</strong> 'Sorgen'. Die Klage<br />
ist eigentlich <strong>die</strong> sprachliche Ausdrucksweise einer Sorge bzw. eines Schmerzes für <strong>die</strong> Ohren<br />
eines an<strong>de</strong>ren Menschen. Hier wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Name und <strong>die</strong> Sache, auf <strong>die</strong> es sich bezieht, verwechselt.<br />
Dies <strong>de</strong>utet daraufhin, dass Hyperion <strong>de</strong>r Ansicht ist, dass Sprache und Wirklichkeit ungefähr<br />
dasselbe sind. Das Verb „stillen“ be<strong>de</strong>utet 'still machen' in bei<strong>de</strong>rlei Sinn: sowohl 'beruhigen'<br />
als auch 'zum Schweigen bringen'. Denn wenn <strong>de</strong>r Kläger verstummt, nimmt man normalerweise<br />
an, dass sein Problem gelöst wor<strong>de</strong>n ist, weil sonst seine sprachlichen Klagen genau <strong>de</strong>r<br />
Wirklichkeit seines Kummers entsprechen wür<strong>de</strong>n. Das Adverb „still“ gilt hier sowohl für <strong>die</strong><br />
Quelle als auch für Diotimas Herz, das erbebt, weil es lebendig ist, aber wortlos bleibt, weil es<br />
im Kontakt mit <strong>de</strong>m Himmel ist.<br />
Die reinen Quellen fordr’ ich auf zu Zeugen, und <strong>die</strong> unschuldigen Bäume, <strong>die</strong> uns belauschten, und das<br />
Tagslicht und <strong>de</strong>n Äther! war sie nicht mein? vereint mit mir in allen Tönen <strong>de</strong>s Lebens? (Schmidt, 1994:<br />
70)<br />
Hyperion spricht hier von Diotima. Er behauptet, er war mit ihr vereint. Da funktionierte zwischen<br />
ihnen nur <strong>die</strong> heilige Sprache, <strong>die</strong> mit <strong>de</strong>r Musik vergleichbar ist. Davon ausgehend kann<br />
man dann <strong>die</strong> Metapher „Töne <strong>de</strong>s Lebens“ verstehen, <strong>die</strong> hier etwa so viel wie 'Ebenen, Aspekte<br />
<strong>de</strong>s Lebens' be<strong>de</strong>utet. Das Leben bzw. <strong>die</strong> Wirklichkeit hat somit verschie<strong>de</strong>ne Aspekte, <strong>die</strong> sich<br />
in <strong>de</strong>r heiligen musikalischen Sprache wi<strong>de</strong>rspiegeln o<strong>de</strong>r vielleicht sogar wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n.<br />
Aber es ist auch nichts Herrlicheres auf Er<strong>de</strong>n, als wenn ein stolzes Paar, wie <strong>die</strong>se, so sich untertan ist.<br />
Das ist auch meine Hoffnung, meine Lust in einsamen Stun<strong>de</strong>n, dass solche große Töne und größere einst<br />
wie<strong>de</strong>rkehren müssen in <strong>de</strong>r Symphonie <strong>de</strong>s Weltlaufs. (Schmidt, 1994: 73)<br />
Hyperion spricht hier von zwei sehr berühmten Männern <strong>de</strong>r griechischen Antike, Harmodius<br />
und Aristogiton, <strong>die</strong> durch eine beispielhaft innige Freundschaft verbun<strong>de</strong>n waren. „Töne“ steht<br />
hier metaphorisch für 'Ereignisse, hel<strong>de</strong>nhafte Taten' und „Symphonie“ für 'Ganzes, in <strong>de</strong>m alles<br />
in harmonischer Beziehung zu allem steht'. Die Metapher besteht darin, das Vergleichbare statt<br />
das Gemeinte zu nennen. Vergleichbar sind <strong>die</strong>se Wörter, <strong>die</strong> zum Prototyp <strong>de</strong>r Musik gehören,<br />
weil für Höl<strong>de</strong>rlin sowohl <strong>die</strong> Musik als auch <strong>die</strong> Gesamtheit <strong>de</strong>r natürlichen Phänomene eine<br />
Sprache sind, <strong>die</strong> zum Menschen von <strong>de</strong>r Gottheit spricht. Der Genitiv „<strong>de</strong>s Weltlaufs“ mit seiner<br />
typischen Attribut bzw. Erklärungsfunktion macht <strong>die</strong>sen Vergleich diskret explizit. Was<br />
Hyperion aber wörtlich ausgesagt hat, ist, dass jene außergewöhnliche Freundschaft ein großer<br />
Ton ist, und dass <strong>de</strong>r Weltlauf eine Symphonie ist. Demnach ist <strong>die</strong> Sprache dasselbe wie <strong>die</strong><br />
Wirklichkeit, sie wer<strong>de</strong>n verwechselt.<br />
wer kann dich fassen? wer kann sagen, er habe ganz dich begriffen? (Schmidt, 1994: 82)<br />
Dies sagt Hyperion zu Diotima. Der Parallelismus <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n rhetorischen Fragen mit ihren synonymen<br />
Verben <strong>de</strong>utet daraufhin, dass bei<strong>de</strong> Sätze dasselbe be<strong>de</strong>uten. Demnach ist es das Gleiche,<br />
jeman<strong>de</strong>n zu verstehen, wie zu sagen, dass man ihn versteht. Die Wirklichkeit und ihre Benennung<br />
durch Sprache wer<strong>de</strong>n gleichgesetzt.<br />
Sage das nicht! erwi<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>rselbe; und mangelt’ auch wirklich ihnen <strong>de</strong>r Geist von all <strong>de</strong>m Schönen, so<br />
wär’ es, weil <strong>de</strong>r nicht weggetragen wer<strong>de</strong>n konnte und nicht gekauft.<br />
Ja wohl! rief ich. Dieser Geist war auch untergegangen noch ehe <strong>die</strong> Zerstörer über Attika kamen. Erst,<br />
wenn <strong>die</strong> Häuser und Tempel ausgestorben, wagen sich <strong>die</strong> wil<strong>de</strong>n Tiere in <strong>die</strong> Tore und Gassen.<br />
154