die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
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Diotima ist sehr traurig, weil sie glaubt, ihr Hyperion ist tot. Sie wird lebensmü<strong>de</strong>. Früher hatte<br />
sie mit <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>n Blumen kommuniziert, <strong>de</strong>nn sie war eine Blume unter <strong>de</strong>n Blumen gewesen,<br />
und <strong>die</strong> Blumen nickten ihr freundlich zu, aber jetzt kann sie nur noch weinen, und sowohl<br />
sie als auch <strong>die</strong> Laube sind still gewor<strong>de</strong>n. Das Adverb „still“ be<strong>de</strong>utet hier 'sprachlos'. Wegen<br />
ihrer Nie<strong>de</strong>rgeschlagenheit und Kommunikationslosigkeit gehört Diotima nicht mehr zur<br />
Natur und ist ihr fremd gewor<strong>de</strong>n.<br />
Dein Feuer lebt’ in mir, <strong>de</strong>in Geist war in mich übergegangen; aber das hätte schwerlich gescha<strong>de</strong>t, und nur<br />
<strong>de</strong>in Schicksal hat mein neues Leben mir tödlich gemacht. Zu mächtig war mir meine Seele durch dich, sie<br />
wäre durch dich auch wie<strong>de</strong>r stille gewor<strong>de</strong>n. Du entzogst mein Leben <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, du hättest auch Macht gehabt,<br />
mich an <strong>die</strong> Er<strong>de</strong> zu fesseln, du hättest meine Seele, wie in einen Zauberkreis, in <strong>de</strong>ine umfangen<strong>de</strong>n<br />
Arme gebannt; ach! Einer <strong>de</strong>iner Herzensblicke hätte mich fest gehalten, Eine <strong>de</strong>iner Liebesre<strong>de</strong>n hätte<br />
mich wie<strong>de</strong>r zum frohen gesun<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong> gemacht; doch da <strong>de</strong>in eigen Schicksal dich in Geisteseinsamkeit,<br />
wie Wasserflut auf Bergesgipfel trieb, o da erst, als ich vollends meinte, dir habe das Wetter <strong>de</strong>r Schlacht<br />
<strong>de</strong>n Kerker gesprengt und mein Hyperion sei aufgeflogen in <strong>die</strong> alte Freiheit, da entschied sich es mit mir<br />
und wird nun bald sich en<strong>de</strong>n. (Schmidt, 1994: 161)<br />
Dies schreibt Diotima an Hyperion. Ihre außeror<strong>de</strong>ntlich tiefe Liebe zu Hyperion hat ihr <strong>die</strong> Seele<br />
geraubt. Sie ist nicht mehr <strong>die</strong>selbe, <strong>die</strong> sie war, und kann nicht an<strong>de</strong>rs als stille wer<strong>de</strong>n und<br />
ihre Sprache verlieren. Hyperions mächtiger Geist entzog Diotimas Leben <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und machte<br />
sie zur Frem<strong>de</strong>n mitten in ihrer Welt. Deshalb wur<strong>de</strong> sie nicht nur sprachlos, son<strong>de</strong>rn auch todkrank.<br />
aber man muss sich höher achten, <strong>de</strong>nn ich mich achte, um so ungerufen <strong>de</strong>r Natur ans Herz zu fliegen,<br />
o<strong>de</strong>r wie du es sonst noch heißen magst, <strong>de</strong>nn wirklich! wie ich jetzt bin, hab’ ich keinen Namen für <strong>die</strong><br />
Dinge und es ist mir alles ungewiss.<br />
Notara! und nun sage mir, wo ist noch Zuflucht? (Schmidt, 1994: 166)<br />
Hyperion hat gera<strong>de</strong> vom Tod Diotimas erfahren und ist völlig verwirrt. Er weiß nicht mehr, was<br />
er nun mit seinem Leben anfangen soll. Er <strong>de</strong>nkt sogar an Selbstmord, <strong>de</strong>nn er hat sich gera<strong>de</strong> an<br />
Empedokles erinnert, <strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>n Vulkan Ätna geworfen hatte. Alle Dinge haben jetzt für ihn<br />
ihre Be<strong>de</strong>utung verloren, und <strong>de</strong>shalb kennt er ihre Namen nicht mehr.<br />
B.II.b.2.2. Wie<strong>de</strong>rgefun<strong>de</strong>ne Sprache als Anzeichen <strong>de</strong>s wie<strong>de</strong>rgefun<strong>de</strong>nen<br />
Weges zu sich selbst<br />
Wir sprachen sehr wenig zusammen. Man schämt sich seiner Sprache. Zum Tone möchte man wer<strong>de</strong>n und<br />
sich vereinen in Einen Himmelsgesang.<br />
Wovon auch sollten wir sprechen? Wir sahn nur uns. Von uns zu sprechen, scheuten wir uns.<br />
Vom Leben <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sprachen wir endlich.<br />
So feurig und kindlich ist ihr noch keine Hymne gesungen wor<strong>de</strong>n. (Schmidt, 1994: 63)<br />
Hyperion erzählt von seiner himmlischen Liebesbeziehung zu Diotima. Sie hörten auf zu sprechen<br />
und vereinigten sich in einer wortlosen Harmonie, <strong>die</strong> wie ein Himmelsgesang war. Dann<br />
kamen sie endlich zu sich und fan<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r zur Sprache. Aber da sie gera<strong>de</strong> einen Spaziergang<br />
durch <strong>de</strong>n Himmel gemacht hatten, kamen sie erleuchtet zurück und konnten Heiliges sprechen.<br />
Sie hatten ihr wirkliches Selbst gefun<strong>de</strong>n, und gleichzeitig das tiefste Verständnis <strong>die</strong>ser Welt.<br />
Lange stan<strong>de</strong>n wir so in hol<strong>de</strong>r selbstvergessener Betrachtung, und keines wusste, wie ihm geschah, bis<br />
endlich <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> zu viel in mir sich häufte und in Tränen und Lauten <strong>de</strong>s Entzückens auch meine verlorne<br />
Sprache wie<strong>de</strong>r begann, und meine stille Begeisterte vollends wie<strong>de</strong>r ins Dasein weckte.<br />
Endlich sahn wir uns auch wie<strong>de</strong>r um. (Schmidt, 1994: 82)<br />
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