die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
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nicht göttlich ist, haben keine Ahnung, was wirkliche Freu<strong>de</strong> ist, nur Hyperion kennt <strong>die</strong> echte<br />
Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes, weil er Diotima vor seinen eigenen Augen gehabt hat.<br />
Nur ihren Gesang sollt’ ich vergessen, nur <strong>die</strong>se Seelentöne sollten nimmer wie<strong>de</strong>rkehren in meinen unaufhörlichen<br />
Träumen.<br />
Man kennt <strong>de</strong>n stolz hinschiffen<strong>de</strong>n Schwan nicht, wenn er schlummernd am Ufer sitzt.<br />
Nur, wenn sie sang, erkannte man <strong>die</strong> lieben<strong>de</strong> Schweigen<strong>de</strong>, <strong>die</strong> so ungern sich zur Sprache verstand.<br />
Da, da ging erst <strong>die</strong> himmlische Ungefällige in ihrer Majestät und Lieblichkeit hervor; da weht’ es oft so<br />
bittend und so schmeichelnd, oft, wie ein Göttergebot, von <strong>de</strong>n zarten blühen<strong>de</strong>n Lippen. Und wie das Herz<br />
sich regt’ in <strong>die</strong>ser göttlichen Stimme, wie alle Größe und Demut, alle Lust und alle Trauer <strong>de</strong>s Lebens verschönert<br />
im A<strong>de</strong>l <strong>die</strong>ser Töne erschien!<br />
Wie im Fluge <strong>die</strong> Schwalbe <strong>die</strong> Bienen hascht, ergriff sie immer uns alle.<br />
Es kam nicht Lust und nicht Bewun<strong>de</strong>rung, es kam <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Himmels unter uns.<br />
Tausendmal hab’ ich es ihr und mir gesagt: das Schönste ist auch das Heiligste. Und so war alles an ihr.<br />
Wie ihr Gesang, so auch ihr Leben. (Schmidt, 1994: 65)<br />
Diotimas Gesang war himmlisch, <strong>de</strong>nn sie benutzte dabei <strong>die</strong> heilige Sprache. Ansonsten benutzte<br />
sie <strong>die</strong> alltägliche Sprache, aber dabei sprach sie sehr wenig, <strong>de</strong>nn Letztere ist nichts im Vergleich<br />
zu Ersterer. Deswegen war sie eine „lieben<strong>de</strong> Schweigen<strong>de</strong>“. Vom Göttlichen und Himmlischen<br />
kann man nicht re<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn nur schweigen.<br />
Es ist doch ewig gewiss und zeigt sich überall: je unschuldiger, schöner eine Seele, <strong>de</strong>sto vertrauter mit <strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>rn glücklichen Leben, <strong>die</strong> man seelenlos nennt.<br />
[...]<br />
Was ist <strong>die</strong> Weisheit eines Buchs gegen <strong>die</strong> Weisheit eines Engels? (Schmidt, 1994: 66)<br />
Der erste Absatz ist <strong>die</strong> Moral, <strong>die</strong> Hyperion aus <strong>de</strong>m Beispiel Diotimas zieht, welche <strong>die</strong> Blumen<br />
beim Namen nennt, als wären sie ihre Schwestern. Die unreine Sprache <strong>de</strong>r groben Menschen<br />
kehrt eben <strong>die</strong> wichtigsten Werte um und führt durch falsche Worte <strong>die</strong> Menschen irre.<br />
Mit <strong>die</strong>ser Sprache kann man das Himmlische niemals benennen. Der zweite Absatz ist eine rhetorische<br />
Frage, <strong>die</strong> behauptet, dass <strong>die</strong> Weisheit eines Engels, <strong>de</strong>r in direktem Kontakt mit <strong>de</strong>m<br />
Göttlichen steht, unvergleichlich besser ist als <strong>die</strong> Weisheit eines Buches, das nur aus Worten besteht.<br />
Der Ägyptier ist hingegeben, eh er ein Ganzes ist, und darum weiß er nichts vom Ganzen, nichts von<br />
Schönheit, und das Höchste, was er nennt, ist eine verschleierte Macht, ein schauerhaft Rätsel; <strong>die</strong> stumme<br />
finstre Isis ist sein Erstes und Letztes, eine leere Unendlichkeit und da heraus ist nie Vernünftiges gekommen.<br />
Auch aus <strong>de</strong>m erhabensten Nichts wird Nichts geboren. (Schmidt, 1994: 93)<br />
Beim Ausflug zu <strong>de</strong>n Ruinen Athens preist Hyperion <strong>die</strong> alten Griechen und vergleicht sie mit<br />
<strong>de</strong>n alten Ägyptern. Letztere benutzen eine irreführen<strong>de</strong> Sprache, <strong>die</strong> das wahre Höchste nicht<br />
kennt und <strong>de</strong>shalb nicht nennen kann und statt<strong>de</strong>ssen etwas Hohles, <strong>die</strong> „Isis“, verehrt, <strong>die</strong> keinen<br />
echten Kontakt mit <strong>de</strong>r wahren Gottheit hält und <strong>de</strong>shalb <strong>die</strong> heilige Sprache gar nicht kennt<br />
und <strong>de</strong>shalb „stumm“ und „leer“ ist.<br />
O es ist bitter, rief ich; auch an <strong>die</strong>sen wagte sich <strong>die</strong> To<strong>de</strong>sgöttin, <strong>die</strong> Namenlose, <strong>die</strong> man Schicksal<br />
nennt. (Schmidt, 1994: 119)<br />
Die Göttin ist „namenlos“, weil sie durch Sprache gar nicht beschrieben wer<strong>de</strong>n kann. Trotz<strong>de</strong>m<br />
wollen <strong>die</strong> Menschen ein Wort für sie fin<strong>de</strong>n, und so „nennen“ sie sie, aber sie bleibt im Grun<strong>de</strong><br />
unbeschreiblich und unaussprechlich. Nur mittels <strong>die</strong>ser Erklärung ist das auffallen<strong>de</strong> Oxymoron<br />
zu verstehen.<br />
Ich bringe mich mit Mühe zu Worten.<br />
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