die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Schicksallos, wie <strong>de</strong>r schlafen<strong>de</strong><br />
Säugling, atmen <strong>die</strong> Himmlischen;<br />
keusch bewahrt<br />
in beschei<strong>de</strong>ner Knospe,<br />
blühet ewig<br />
ihnen <strong>de</strong>r Geist,<br />
und <strong>die</strong> seligen Augen<br />
blicken in stiller<br />
ewiger Klarheit. (Schmidt, 1994: 157)<br />
Dies singt Hyperion. Demnach sind <strong>die</strong> Himmlischen – d.h. <strong>die</strong> Götter – Geister, <strong>die</strong> ewig still<br />
sind. Das Adverb „still“ be<strong>de</strong>utet hier sowohl 'friedlich' als auch 'sprachlos'. Sie sind weit über<br />
<strong>de</strong>n Sterblichen erhaben und teilen mit ihnen <strong>die</strong>se allzu beschränkte Sprachfähigkeit nicht.<br />
Beständigkeit haben <strong>die</strong> Sterne gewählt, in stiller Lebensfülle wallen sie stets und kennen das Alter nicht.<br />
Wir stellen im Wechsel das Vollen<strong>de</strong>te dar; in wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Melo<strong>die</strong>n teilen wir <strong>die</strong> großen Akkor<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Freu<strong>de</strong>. Wie Harfenspieler um <strong>die</strong> Thronen <strong>de</strong>r Ältesten, leben wir, selbst göttlich, um <strong>die</strong> stillen Götter <strong>de</strong>r<br />
Welt, mit <strong>de</strong>m flüchtigen Lebenslie<strong>de</strong> mil<strong>de</strong>rn wir <strong>de</strong>n seligen Ernst <strong>de</strong>s Sonnengotts und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn.<br />
Sieh auf in <strong>die</strong> Welt! Ist sie nicht, wie ein wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Triumphzug, wo <strong>die</strong> Natur <strong>de</strong>n ewigen Sieg über alle<br />
Ver<strong>de</strong>rbnis feiert? und führt nicht zur Verherrlichung das Leben <strong>de</strong>n Tod mit sich, in gol<strong>de</strong>nen Ketten, wie<br />
<strong>de</strong>r Feldherr einst <strong>die</strong> gefangenen Könige mit sich geführt? und wir, wir sind wie <strong>die</strong> Jungfrauen und <strong>die</strong><br />
Jünglinge, <strong>die</strong> mit Tanz und Gesang, in wechseln<strong>de</strong>n Gestalten und Tönen <strong>de</strong>n majestätischen Zug geleiten.<br />
(Schmidt, 1994: 163)<br />
Dies schreibt Diotima an Hyperion. Die Götter kennen das Alter, <strong>die</strong> Begeisterung und <strong>die</strong> Sprache<br />
nicht. Das Adjektiv „still“ be<strong>de</strong>utet hier 'sprachlos'. Ihnen wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Sterblichen gegenübergestellt,<br />
<strong>die</strong> mit ihrer heiligen Sprache, welche musikalisch ist, <strong>die</strong> Götter und das Leben preisen,<br />
verherrlichen und feiern.<br />
Ich habe dir gehorcht, mein Teurer! bin schon weit von euch und will dir nun auch Nachricht geben; aber<br />
schwer wird mir das Wort; das darf ich wohl gestehen. Die Seligen, wo Diotima nun ist, sprechen nicht<br />
viel; in meiner Nacht, in <strong>de</strong>r Tiefe <strong>de</strong>r Trauren<strong>de</strong>n, ist auch <strong>die</strong> Re<strong>de</strong> am En<strong>de</strong>. (Schmidt, 1994: 165)<br />
Dies schreibt Hyperion an seinen Freund Notara, <strong>de</strong>r ihm empfohlen hat, wegzureisen, nach<strong>de</strong>m<br />
er vom Tod Diotimas erfahren hat. Der Ausdruck „sprechen nicht viel“ ist eine große Untertreibung,<br />
<strong>de</strong>nn das folgen<strong>de</strong> „auch“ präsupponiert, dass <strong>de</strong>r Ausdruck „<strong>die</strong> Re<strong>de</strong> am En<strong>de</strong>“ synonym<br />
mit <strong>de</strong>m Ausdruck „sprechen nicht viel“ ist, so dass <strong>de</strong>r letztere eigentlich 'gar nicht sprechen'<br />
be<strong>de</strong>uten soll. Da Hyperion Diotima für ein göttliches Wesen hält, und da sie sich jetzt sowieso<br />
im christlich verstan<strong>de</strong>nen Himmel befin<strong>de</strong>t, kann man sie mitsamt <strong>de</strong>n „Seligen“ zu <strong>de</strong>n Göttern<br />
zählen, <strong>die</strong> alle somit nicht sprechen, zumin<strong>de</strong>st nicht mit <strong>de</strong>n Sterblichen.<br />
›O du, so dacht’ ich, mit <strong>de</strong>inen Göttern, Natur! ich hab’ ihn ausgeträumt, von Menschendingen <strong>de</strong>n Traum<br />
und sage, nur du lebst, und was <strong>die</strong> Frie<strong>de</strong>nslosen erzwungen, erdacht, es schmilzt, wie Perlen von Wachs,<br />
hinweg von <strong>de</strong>inen Flammen!<br />
Wie lang ist’s, dass sie dich entbehren? o wie lang ist’s, dass ihre Menge dich schilt, gemein nennt dich und<br />
<strong>de</strong>ine Götter, <strong>die</strong> Lebendigen, <strong>die</strong> Seligstillen! (Schmidt, 1994: 174)<br />
Hyperion ist selig, weil er in <strong>de</strong>r Natur das Göttliche und einzig Wahre gefun<strong>de</strong>n hat. Die Götter<br />
sind <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> wirklich leben. Sie sind selig und still. Die Stille hier ist <strong>die</strong> Abwesenheit <strong>de</strong>r<br />
Sprache, welche es auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Götter nicht gibt.<br />
107