die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
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4. <strong>die</strong> Geschichte. Das griechische Wort für 'Geschichte' heißt ἱστορία und be<strong>de</strong>utet ursprünglich<br />
das Wissen, das man durch Fragen erworben hat 163 . In unserer gegenwärtigen<br />
Kultur aber hat man <strong>die</strong> allgemeine Vorstellung, dass Geschichte ursprünglich <strong>die</strong> Erzählung<br />
<strong>de</strong>s Geschehenen ist 164 .<br />
5. das aus <strong>de</strong>r Geschichte resultieren<strong>de</strong> Wissen, das durch Vernunft zu Schlussfolgerungen<br />
führt, <strong>die</strong> zum höchsten Bewusstsein beitragen.<br />
6. das höchste Bewusstsein, das daraus gewonnen wird.<br />
Kurz: Das Lei<strong>de</strong>n ist zumin<strong>de</strong>st einer <strong>de</strong>r wichtigen Auslöser <strong>de</strong>r im höchsten und besten Sinne<br />
verstan<strong>de</strong>nen Sprache, d.h. <strong>de</strong>r Sprache in ihrer Funktion als vernünftiges Mittel <strong>de</strong>r Erwerbung,<br />
Sammlung und Vermittlung von Wissen und von höchsten Erkenntnissen. So im Hyperion:<br />
Aber wir haben ja nur Begriffe von <strong>de</strong>m, was einmal schlecht gewesen. (Schmidt, 1994: 17)<br />
Deswegen ist für Höl<strong>de</strong>rlin <strong>die</strong> höchste Erkenntnis eine tragische Einsicht 165 , <strong>die</strong> durch Sprache<br />
zustan<strong>de</strong> kommt, <strong>de</strong>nn Begriffe müssen sich erst in Wörtern verkörpern, um gedacht wer<strong>de</strong>n zu<br />
können, sonst bleiben sie bloß vage, verschwommene und un<strong>de</strong>finierbare Gefühle.<br />
Die Menschen sind sich also nach Höl<strong>de</strong>rlins Meinung <strong>de</strong>r Zeit bewusst, und somit auch <strong>de</strong>s<br />
ständigen „Wan<strong>de</strong>ls“, so dass sie <strong>die</strong>se Erfahrung als schmerzvoll empfin<strong>de</strong>n. Einige wenige<br />
aber, <strong>die</strong> dazu auch noch ihren „Verstand“, benutzen, sehen ein, dass sich <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>l in einen<br />
geschichtlichen Prozess einordnet, <strong>de</strong>r in eine bessere „Zukunft“ führt. Sie haben also dank ihres<br />
Verstan<strong>de</strong>s eine hoffnungsvolle künftige Zeit gefun<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> ihnen einen festen Halt bietet und sie<br />
vor <strong>de</strong>r Vergänglichkeit <strong>de</strong>r „wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Zeit“ rettet. Sie haben <strong>die</strong> höchste Erkenntnis, „das<br />
höchste Bewusstsein“ erreicht. Aber da sie eine Min<strong>de</strong>rheit sind, wird ihre Sprache meistens<br />
missverstan<strong>de</strong>n und sie wer<strong>de</strong>n verkannt, verachtet und zu Außenseitern verdammt. Deswegen<br />
nennt Höl<strong>de</strong>rlin sie „heroische Eremiten“.<br />
Wolfgang Scha<strong>de</strong>waldt, angesehener Übersetzer altertümlicher Werke, weist auf <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r<br />
Katharsis hin: Beim tiefsten Lei<strong>de</strong>n, das in <strong>de</strong>r antiken Tragö<strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Götter eingeführt<br />
wird, reinigt sich <strong>de</strong>r Mensch und erlangt das höchste Bewusstsein. 166 Höl<strong>de</strong>rlin selbst hatte im<br />
Tübinger Stift Theologie und Altphilologie stu<strong>die</strong>rt und ließ sich ganz beson<strong>de</strong>rs von <strong>de</strong>r griechischen<br />
Antike begeistern. Der Begriff <strong>de</strong>r Katharsis war ihm ganz bestimmt nicht unbekannt, und<br />
liegt offensichtlich <strong>de</strong>r hier ge<strong>de</strong>uteten Stelle zugrun<strong>de</strong>: man zählt <strong>die</strong> Zeit im Lei<strong>de</strong>n, man lässt<br />
<strong>die</strong> Vernunft <strong>die</strong> Geschichte analysieren und erlangt dadurch das höchste Bewusstsein.<br />
Für Johann Kreuzer fin<strong>de</strong>t Höl<strong>de</strong>rlin dank <strong>de</strong>r Tragik <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>r Sprache, das ursprüngliche<br />
Geschichtsbewusstsein, wo <strong>de</strong>r Mensch sich an <strong>die</strong> Götter erinnert. Denn durch <strong>die</strong> Erinnerung<br />
an seine ursprüngliche Einheit mit <strong>de</strong>n Göttern überwin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r individuelle Mensch sein<br />
bitteres Einsamkeitsgefühl – das Erich Fromm 167 „Getrenntheit“ nennt und für <strong>de</strong>n Ursprung allen<br />
menschlichen Lei<strong>de</strong>ns hält – und kommt zum höchsten Bewusstsein und zur Erkenntnis, dass<br />
er doch noch immer ein Teil <strong>de</strong>s Ganzen ist und im Schoß <strong>de</strong>r Gottheit geborgen ist 168 . Das tiefste<br />
Lei<strong>de</strong>n treibt also <strong>de</strong>n Menschen an, einen Trost zu suchen, und <strong>de</strong>n fin<strong>de</strong>t er in <strong>de</strong>r Sprache<br />
bei <strong>de</strong>r Erinnerung an das verloren geglaubte höchste Bewusstsein.<br />
163<br />
Gemoll, 1991: 393.<br />
164<br />
Wermke, 1996: 597.<br />
165<br />
Bo<strong>de</strong>i, 1990: 46.<br />
166<br />
Scha<strong>de</strong>waldt, 1964: 581.<br />
167<br />
Fromm, 1986: 19.<br />
168<br />
Kreuzer, 2001b: 117 f.<br />
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