die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
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am offnen Halse herabsank, und <strong>die</strong> süßen Lippen+ an <strong>de</strong>r schlagen<strong>de</strong>n Brust mir ruhten+ und <strong>de</strong>r liebliche<br />
Atem an <strong>die</strong> Seele mir ging – o Bellarmin! <strong>die</strong> Sinne vergehn mir und <strong>de</strong>r Geist entflieht.<br />
Ich seh’, ich sehe, wie das en<strong>de</strong>n muss. Das Steuer ist in <strong>die</strong> Woge gefallen und das Schiff wird, wie an <strong>de</strong>n<br />
Füßen ein Kind, ergriffen und an <strong>die</strong> Felsen geschleu<strong>de</strong>rt.<br />
#*87*#HYPERION AN BELLARMIN<br />
Es gibt große Stun<strong>de</strong>n im Leben. Wir schauen an ihnen hinauf, wie an <strong>de</strong>n kolossalischen Gestalten <strong>de</strong>r<br />
Zukunft und <strong>de</strong>s Altertums, wir kämpfen einen herrlichen Kampf mit ihnen, und bestehn wir vor ihnen, so<br />
wer<strong>de</strong>n sie, wie Schwestern, und verlassen uns nicht.<br />
Wir saßen einst zusammen auf unsrem Berge, auf einem Steine <strong>de</strong>r alten Stadt <strong>die</strong>ser Insel und sprachen+<br />
davon, wie hier <strong>de</strong>r Löwe Demosthenes sein En<strong>de</strong> gefun<strong>de</strong>n, wie er hier mit heiligem selbsterwähltem To<strong>de</strong><br />
aus <strong>de</strong>n macedonischen Ketten und Dolchen sich zur Freiheit geholfen – Der herrliche Geist ging scherzend<br />
aus <strong>de</strong>r Welt, rief+ einer; warum nicht? sagt’+ ich; er hatte nichts mehr hier zu suchen; Athen war<br />
Alexan<strong>de</strong>rs Dirne gewor<strong>de</strong>n, und <strong>die</strong> Welt, wie ein Hirsch, von <strong>de</strong>m großen Jäger zu To<strong>de</strong> gehetzt.<br />
O Athen! rief+ Diotima; ich habe manchmal getrauert, wenn ich dahinaussah, und aus <strong>de</strong>r blauen<br />
Dämmerung mir das Phantom <strong>de</strong>s Olympion aufstieg!<br />
Wie weit ist’s hinüber? fragt’+ ich.<br />
Eine Tagreise vielleicht, erwi<strong>de</strong>rte Diotima.<br />
Eine Tagereise, rief+ ich, und ich war noch nicht drüben? Wir müssen gleich hinüber zusammen.<br />
Recht so! rief+ Diotima; wir haben morgen heitere See, und alles steht jetzt noch in seiner Grüne und<br />
Reife.<br />
Man braucht <strong>die</strong> ewige Sonne und das Leben <strong>de</strong>r unsterblichen Er<strong>de</strong> zu solcher Wallfahrt.<br />
Also morgen! sagt’+ ich, und unsre Freun<strong>de</strong> stimmten mit ein.<br />
Wir fuhren früh, unter <strong>de</strong>m Gesange+ <strong>de</strong>s Hahns, aus <strong>de</strong>r Ree<strong>de</strong>. In frischer Klarheit glänzten wir und <strong>die</strong><br />
Welt. Goldne stille+ Jugend war in unsern Herzen. Das Leben in uns war, wie das Leben einer neugebornen<br />
Insel <strong>de</strong>s Ozeans, worauf <strong>de</strong>r erste Frühling beginnt.<br />
Schon lange war unter Diotimas Einfluss mehr Gleichgewicht in meine Seele gekommen; heute fühlt’ ich<br />
es #*88*#dreifach rein, und <strong>die</strong> zerstreuten schwärmen<strong>de</strong>n Kräfte waren all in Eine goldne Mitte<br />
versammelt.<br />
Wir sprachen+ untereinan<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Trefflichkeit <strong>de</strong>s alten Athenervolks, woher sie komme, worin sie<br />
bestehe.<br />
Einer sagte+, das Klima hat es gemacht; <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re: <strong>die</strong> Kunst+ und Philosophie; <strong>de</strong>r dritte: Religion und<br />
Staatsform.<br />
Athenische Kunst+ und Religion, und Philosophie und Staatsform, sagt’+ ich, sind Blüten und Früchte <strong>de</strong>s<br />
Baums, nicht Bo<strong>de</strong>n und Wurzel. Ihr nehmt <strong>die</strong> Wirkungen für <strong>die</strong> Ursache.<br />
Wer aber mir sagt+, das Klima habe <strong>die</strong>s alles gebil<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>nke, dass auch wir darin noch leben.<br />
Ungestörter in je<strong>de</strong>m Betracht, von gewaltsamem Einfluss freier, als irgen<strong>de</strong>in Volk <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, erwuchs das<br />
Volk <strong>de</strong>r Athener. Kein Eroberer schwächt sie, kein Kriegsglück berauscht sie, kein frem<strong>de</strong>r Götter<strong>die</strong>nst<br />
betäubt sie, keine eilfertige Weisheit treibt sie zu unzeitiger Reife. Sich selber überlassen, wie <strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Diamant, ist ihre Kindheit. Man hört+ beinahe nichts von ihnen, bis in <strong>die</strong> Zeiten <strong>de</strong>s Pisistratus und<br />
Hipparch. Nur wenig Anteil nahmen sie am trojanischen Kriege, <strong>de</strong>r, wie im Treibhaus, <strong>die</strong> meisten<br />
griechischen Völker zu früh erhitzt’ und belebte. – Kein außeror<strong>de</strong>ntlich Schicksal erzeugt <strong>de</strong>n Menschen.<br />
Groß und kolossalisch sind <strong>die</strong> Söhne einer solchen Mutter, aber schöne Wesen, o<strong>de</strong>r, was dasselbe ist,<br />
Menschen wer<strong>de</strong>n sie nie, o<strong>de</strong>r spät erst, wenn <strong>die</strong> Kontraste sich zu hart bekämpfen, um nicht endlich<br />
Frie<strong>de</strong>n zu machen.<br />
In üppiger Kraft eilt Lacedämon <strong>de</strong>n Atheniensern voraus, und hätte sich eben <strong>de</strong>swegen auch früher<br />
zerstreut und aufgelöst, wäre Lycurg nicht gekommen, und hätte mit seiner Zucht <strong>die</strong> übermütige Natur<br />
zusammengehalten. Von nun an war <strong>de</strong>nn auch an <strong>de</strong>m Spartaner alles erbil<strong>de</strong>t, alle Vortrefflichkeit<br />
errungen und erkauft durch Fleiß und selbstbewusstes Streben, und soviel man in gewissem Sinne von <strong>de</strong>r<br />
Einfalt <strong>de</strong>r Spartaner sprechen+ kann, so war doch, wie natürlich, eigentliche Kin<strong>de</strong>reinfalt ganz nicht unter<br />
#*89*#ihnen. Die Lacedämonier durchbrachen zu frühe <strong>die</strong> Ordnung <strong>de</strong>s Instinkts, sie schlugen zu früh aus<br />
<strong>de</strong>r Art, und so musste <strong>de</strong>nn auch <strong>die</strong> Zucht zu früh mit ihnen beginnen; <strong>de</strong>nn je<strong>de</strong> Zucht und Kunst+<br />
beginnt zu früh, wo <strong>die</strong> Natur <strong>de</strong>s Menschen noch nicht reif gewor<strong>de</strong>n ist. Vollen<strong>de</strong>te Natur muss in <strong>de</strong>m<br />
Menschenkin<strong>de</strong> leben, eh es in <strong>die</strong> Schule geht, damit das Bild <strong>de</strong>r Kindheit ihm <strong>die</strong> Rückkehr zeige aus <strong>de</strong>r<br />
Schule zu vollen<strong>de</strong>ter Natur.<br />
Die Spartaner blieben ewig ein Fragment; <strong>de</strong>nn wer nicht einmal ein vollkommenes Kind war, <strong>de</strong>r wird<br />
schwerlich ein vollkommener Mann. –<br />
Freilich hat auch Himmel und Er<strong>de</strong> für <strong>die</strong> Athener, wie für alle Griechen, das ihre getan, hat ihnen nicht<br />
Armut und nicht Überfluss gereicht. Die Strahlen <strong>de</strong>s Himmels sind nicht, wie ein Feuerregen, auf sie<br />
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