die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
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Wer jenen Geist hat, sagte Diotima tröstend, <strong>de</strong>m stehet Athen noch, wie ein blühen<strong>de</strong>r Fruchtbaum. Der<br />
Künstler ergänzt <strong>de</strong>n Torso sich leicht. (Schmidt, 1994: 96)<br />
Hyperion diskutiert mit Diotima und an<strong>de</strong>ren Freun<strong>de</strong>n über <strong>die</strong> Ruinen <strong>de</strong>s alten Griechenlands.<br />
Mit <strong>de</strong>m Substantiv „Künstler“ meint Hyperion hier <strong>de</strong>n Menschen, <strong>de</strong>r für <strong>die</strong> göttliche Schönheit<br />
empfänglich ist und <strong>die</strong> Wirklichkeit so gut kennt, dass er sie wie<strong>de</strong>r aufbauen kann, wenn<br />
sie zerstört ist. Er braucht kein Mo<strong>de</strong>ll für <strong>die</strong> schöne Wirklichkeit, weil er sie kennt, weil sie in<br />
ihm, in seinem Kopf, in seiner Kenntnis <strong>de</strong>r Welt, in seiner Erinnerung, in seiner Sprache aufbewahrt<br />
und geborgen liegt, <strong>de</strong>nn nur in sprachlicher Form können <strong>die</strong> Begriffe gespeichert wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Bil<strong>de</strong>r, <strong>die</strong> man in Erinnerung hat, gehören auch zum Wortschatz <strong>de</strong>r im weiten Sinne<br />
verstan<strong>de</strong>nen Sprache, d.h. <strong>de</strong>r allgemeinen semiotischen Fähigkeit.<br />
Es wird, rief Alabanda, und ich sage dir, Herz! es soll ein ziemlich Feuer wer<strong>de</strong>n. (Schmidt, 1994: 119)<br />
Alabanda versichert Hyperion, ihn erwarte eine glückliche Zukunft mit Diotima. Das Verb „sagen“<br />
hat hier <strong>die</strong> Be<strong>de</strong>utung von 'beteuern, versichern, bestätigen'. Alabanda ist sich vollkommen<br />
sicher, dass <strong>die</strong> Zukunft so sein wird, wie er sie mit seinen Worten beschreibt.<br />
Lebe wohl! vollen<strong>de</strong>, wie es <strong>de</strong>r Geist dir gebeut! und lass <strong>de</strong>n Krieg zu lange nicht dauern, um <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns<br />
willen, Hyperion, um <strong>de</strong>s schönen, neuen, gol<strong>de</strong>nen Frie<strong>de</strong>ns willen, wo, wie du sagtest, einst in unser<br />
Rechtsbuch eingeschrieben wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Gesetze <strong>de</strong>r Natur, und wo das Leben selbst, wo sie, <strong>die</strong> göttliche<br />
Natur, <strong>die</strong> in kein Buch geschrieben wer<strong>de</strong>n kann, im Herzen <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> sein wird. Lebe wohl.<br />
(Schmidt, 1994: 129)<br />
Dies schreibt Diotima in ihrem letzten Brief an Hyperion. Sie meint, Hyperion „sagte“ etwas,<br />
und genauso wird es auch sein. Diotima ist sich vollkommen sicher, dass <strong>die</strong> Zukunft so sein<br />
wird, wie Hyperion sie mit seinen Worten beschrieben hatte und sie selbst sich nachgesprochen<br />
hat. An<strong>de</strong>rerseits wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Gesetze <strong>de</strong>r Natur in ein Gesetzbuch „eingeschrieben“ wer<strong>de</strong>n, so<br />
dass <strong>die</strong> Worte <strong>de</strong>r Wirklichkeit entsprechen.<br />
Freiheit! wer das Wort versteht – es ist ein tiefes Wort, Diotima. (Schmidt, 1994: 133)<br />
Hyperion hat <strong>de</strong>n Krieg und <strong>die</strong> Ehre verloren. Er hat alles verloren, ihm bleibt nur noch <strong>die</strong><br />
Freiheit. Das „Wort“ ist „tief“, weil seine Be<strong>de</strong>utung ein tiefer Begriff ist. Hyperion verwechselt<br />
hier das Wort 'Freiheit' mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r Freiheit und meint: Wer versteht, was Freiheit ist,<br />
<strong>de</strong>r hat einen wesentlichen Aspekt <strong>de</strong>s Lebens begriffen. In <strong>de</strong>r Sprache liegt also das Verständnis<br />
<strong>de</strong>r Wirklichkeit, <strong>die</strong> eben durch <strong>die</strong> sprachlichen Begriffe verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann.<br />
O seid willkommen, ihr Guten, ihr Treuen! ihr Tiefvermissten, Verkannten! Kin<strong>de</strong>r und Älteste! Sonn’ und<br />
Erd’ und Äther mit allen leben<strong>de</strong>n Seelen, <strong>die</strong> um euch spielen, <strong>die</strong> ihr umspielt, in ewiger Liebe! o nehmt<br />
<strong>die</strong> alles versuchen<strong>de</strong>n Menschen, nehmt <strong>die</strong> Flüchtlinge wie<strong>de</strong>r in <strong>die</strong> Götterfamilie, nehmt in <strong>die</strong> Heimat<br />
<strong>de</strong>r Natur sie auf, aus <strong>de</strong>r sie entwichen! –<br />
Du kennst <strong>die</strong>s Wort, Hyperion! Du hast es angefangen in mir. Du wirst’s vollen<strong>de</strong>n in dir, und dann erst<br />
ruhn. (Schmidt, 1994: 162)<br />
Dies schreibt Diotima in ihrem letzten Brief an Hyperion, weil sie schwer krank ist und weiß,<br />
dass sie bald sterben wird. Das Substantiv „Wort“ be<strong>de</strong>utet hier <strong>die</strong> Vorstellung, dass <strong>de</strong>r<br />
Mensch ein heiliges Wesen <strong>de</strong>r Natur ist und zu <strong>de</strong>n Göttern gehört. Es ist für Diotima nicht nur<br />
ein Gedanke o<strong>de</strong>r ein schönes Bildnis, es ist für sie wirklich. In <strong>die</strong>sem Wort, das Hyperion an<br />
Diotima weitergegeben hat, steckt so viel Wahrheit, dass Diotima sich <strong>de</strong>ssen absolut sicher ist,<br />
obwohl sie im Sterben liegt. An<strong>de</strong>rerseits ist das „Wort“ auch ein göttliches Gebot, das vollen<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n muss. Erst danach wird Hyperion „ruhen“, d.h. sowohl mit seiner Aufgabe fertig sein,<br />
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