die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
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Hyperion besucht Diotima und ist sehr fröhlich. Das Verb „fragen“ präsupponiert als Akkusativergänzung<br />
einen Menschen, <strong>de</strong>r antworten kann. Hyperion hat zwar nicht gefragt, aber er hätte<br />
fragen können. Das präsupponiert wie<strong>de</strong>rum, dass es eine Antwort hätte bekommen können.<br />
Dies alles präsupponiert, dass „das Lüftchen“ personifiziert ist bzw. als heilige Natur gilt, <strong>die</strong> mit<br />
Menschen auf ihre beson<strong>de</strong>re Weise kommunizieren kann.<br />
Die sternenhelle Nacht war nun mein Element gewor<strong>de</strong>n. Dann, wann es stille war, wie in <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>r<br />
Er<strong>de</strong>, wo geheimnisvoll das Gold wächst, dann hob das schönere Leben meiner Liebe sich an.<br />
Da übte das Herz sein Recht, zu dichten, aus. Da sagt’ es mir, wie Hyperions Geist im Vorelysium mit seiner<br />
hol<strong>de</strong>n Diotima gespielt, eh er herabgekommen zur Er<strong>de</strong>, in göttlicher Kindheit bei <strong>de</strong>m Wohlgetöne<br />
<strong>de</strong>s Quells, und unter Zweigen, wie wir <strong>die</strong> Zweige <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sehn, wenn sie verschönert aus <strong>de</strong>m gül<strong>de</strong>nen<br />
Strome blinken.<br />
Und, wie <strong>die</strong> Vergangenheit, öffnete sich <strong>die</strong> Pforte <strong>de</strong>r Zukunft in mir. (Schmidt, 1994: 80)<br />
Demnach besteht das „Dichten“ darin, dass Hyperions Herz ihm sagt, wie schön das Leben war,<br />
ist und sein wird. Dieses heilige Dichten fin<strong>de</strong>t dann statt, als Hyperion sich mitten in <strong>de</strong>r Natur<br />
befin<strong>de</strong>t und sich in seinem Element, im Para<strong>die</strong>s fühlt. Hyperion spürt <strong>die</strong> Schönheit <strong>de</strong>r Natur<br />
und <strong>die</strong> Liebe für Diotima. Unter <strong>die</strong>sen Umstän<strong>de</strong>n gibt es <strong>die</strong> heilige Sprache, <strong>die</strong> Menschen<br />
und Natur auf <strong>de</strong>r höchsten Ebene verbin<strong>de</strong>t und selig macht.<br />
Aber ich will hinausgehn unter <strong>die</strong> Pflanzen und Bäume, und unter sie hin mich legen und beten, dass <strong>die</strong><br />
Natur zu solcher Ruhe mich bringe. (Schmidt, 1994: 84)<br />
Das Verb „beten“ gehört an sich zur heiligen Nutzung <strong>de</strong>r Sprache. Aber es präsupponiert als<br />
Objekt eine Gottheit. In <strong>die</strong>sem Fall wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Pflanzen und Bäume angebetet. Und „beten“<br />
präsupponiert auch, dass das Gebet erhört wer<strong>de</strong>n kann, d.h. dass <strong>die</strong> Kommunikation möglich<br />
ist. Durch <strong>die</strong>ses „Beten“ setzt sich Hyperion also in Verbindung mit <strong>de</strong>r Natur.<br />
O Parthenon! rief ich, Stolz <strong>de</strong>r Welt! zu <strong>de</strong>inen Füßen liegt das Reich <strong>de</strong>s Neptun, wie ein bezwungener<br />
Löwe, und wie Kin<strong>de</strong>r, sind <strong>die</strong> an<strong>de</strong>rn Tempel um dich versammelt, und <strong>die</strong> beredte Agora und <strong>de</strong>r Hain<br />
<strong>de</strong>s Aka<strong>de</strong>mus –<br />
[...]<br />
Honig reichte <strong>die</strong> Natur und <strong>die</strong> schönsten Veilchen und Myrten und Oliven.<br />
Die Natur war Priesterin und <strong>de</strong>r Mensch ihr Gott, und alles Leben in ihr und je<strong>de</strong> Gestalt und je<strong>de</strong>r Ton<br />
von ihr nur Ein begeistertes Echo <strong>de</strong>s Herrlichen, <strong>de</strong>m sie gehörte. (Schmidt, 1994: 95)<br />
Das Adjektiv „beredt“ be<strong>de</strong>utet hier 'vielsagend, be<strong>de</strong>utungsvoll'. Die Agora ist ein Platz und<br />
kann natürlich nicht <strong>die</strong> normale menschliche Sprache sprechen. Es ist aber eine Ruine, <strong>die</strong><br />
durch ihre einfache Anwesenheit von <strong>de</strong>r Vergangenheit zeugt und viel darüber aussagt. Diese<br />
übertragene Be<strong>de</strong>utung von 'beredt' ist heutzutage üblich. Vielleicht war sie es im Jahre 1798<br />
noch nicht. Es besteht je<strong>de</strong>nfalls <strong>die</strong> Möglichkeit, dass <strong>de</strong>r Autor ohnehin ausdrücken wollte,<br />
dass <strong>die</strong> altgriechische Agora, <strong>die</strong> für ihn so heilig ist wie <strong>die</strong> Natur, mit <strong>de</strong>n empfindsamen<br />
Menschen <strong>die</strong> heilige Sprache spricht. Die „Priesterin“ ist hier eine Dienerin Gottes, <strong>die</strong> mit ihm<br />
umgeht und in Verbindung steht, so dass sie auch je<strong>de</strong>n Ton, je<strong>de</strong>s sprachliche bzw. nichtsprachliche<br />
Zeichen mit Be<strong>de</strong>utung, wie ein Echo wie<strong>de</strong>rgibt. Dies alles geschieht auf rituelle<br />
Weise, um <strong>de</strong>n heiligen Charakter <strong>de</strong>s Vorgehens <strong>de</strong>utlich zu machen.<br />
O ihr Haine von Angele, wo <strong>de</strong>r Ölbaum und <strong>die</strong> Zypresse, umeinan<strong>de</strong>r flüsternd, mit freundlichen Schatten<br />
sich kühlen, wo <strong>die</strong> goldne Frucht <strong>de</strong>s Zitronenbaums aus dunklem Laube blinkt, wo <strong>die</strong> schwellen<strong>de</strong><br />
Traube mutwillig über <strong>de</strong>n Zaun wächst, und <strong>die</strong> reife Pomeranze, wie ein lächeln<strong>de</strong>r Fündling, im Wege<br />
liegt! (Schmidt, 1994: 97 f.)<br />
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