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die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València

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O heiliges Licht, das ruhelos, in seinem ungeheuren Reiche wirksam, dort oben über uns wan<strong>de</strong>lt, und seine<br />

Seele auch mir mitteilt, in <strong>de</strong>n Strahlen, <strong>die</strong> ich trinke, <strong>de</strong>in Glück sei meines!<br />

Von ihren Taten nähren <strong>die</strong> Söhne <strong>de</strong>r Sonne sich; sie leben vom Sieg; mit eignem Geist ermuntern sie<br />

sich, und ihre Kraft ist ihre Freu<strong>de</strong>. – (Schmidt, 1994: 37)<br />

Dies sagt Alabanda zu seinem neuen Freund Hyperion. Das „heilige Licht“ ist <strong>die</strong> „Sonne“, <strong>de</strong>nn<br />

sie „wan<strong>de</strong>lt dort oben über“ <strong>de</strong>n Menschen und hat „Strahlen“. Die Sonne teilt Alabanda ihre<br />

Seele mit, heißt es hier ausdrücklich.<br />

o Begeisterung! Du wirst <strong>de</strong>n Frühling <strong>de</strong>r Völker uns wie<strong>de</strong>rbringen. Dich kann <strong>de</strong>r Staat nicht hergebieten.<br />

Aber er störe dich nicht, so wirst du kommen, kommen wirst du, mit <strong>de</strong>inen allmächtigen Wonnen, in<br />

goldne Wolken wirst du uns hüllen und empor uns tragen über <strong>die</strong> Sterblichkeit, und wir wer<strong>de</strong>n staunen<br />

und fragen, ob wir es noch seien, wir, <strong>die</strong> Dürftigen, <strong>die</strong> wir <strong>die</strong> Sterne fragten, ob dort uns ein Frühling<br />

blühe – fragst du mich, wann <strong>die</strong>s sein wird? Dann, wann <strong>die</strong> Lieblingin <strong>de</strong>r Zeit, <strong>die</strong> jüngste, schönste<br />

Tochter <strong>de</strong>r Zeit, <strong>die</strong> neue Kirche, hervorgehn wird aus <strong>die</strong>sen befleckten veralteten Formen (Schmidt,<br />

1994: 41)<br />

Das Verb „fragen“ präsupponiert als Akkusativergänzung eine Person o<strong>de</strong>r ein Wesen, das sprechen<br />

kann. Da <strong>die</strong>s offensichtlich nicht <strong>de</strong>r Fall ist, wer<strong>de</strong>n <strong>die</strong> Sterne personifiziert, und <strong>die</strong><br />

Sprache, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Menschen mit <strong>de</strong>r personifizierten und somit vergöttlichten Natur verbin<strong>de</strong>t, ist<br />

<strong>die</strong> heilige Sprache.<br />

Zu <strong>de</strong>n Pflanzen spricht er, ich war auch einmal, wie ihr! und zu <strong>de</strong>n reinen Sternen, ich will wer<strong>de</strong>n, wie<br />

ihr, in einer andren Welt! (Schmidt, 1994: 54)<br />

Hyperion spricht in <strong>de</strong>r dritten Person über sich selbst. Er spricht zu <strong>de</strong>n Pflanzen und zu <strong>de</strong>n<br />

Sternen. Aber er ist keineswegs <strong>de</strong>shalb verrückt gewor<strong>de</strong>n. Dieser Mensch und <strong>die</strong> Natur stehen<br />

nämlich in engem Kontakt miteinan<strong>de</strong>r.<br />

Mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn spielte das hohe Element am schönsten.<br />

Das summte friedlich vor sich hin, <strong>de</strong>m schlüpft’ ein taktlos Liedchen aus <strong>de</strong>n Lippen, <strong>de</strong>m ein Frohlocken<br />

aus offner Kehle; das streckte sich, das sprang in <strong>die</strong> Höhe; ein andres schlen<strong>de</strong>rte vertieft umher.<br />

Und all <strong>die</strong>s war <strong>die</strong> Sprache Eines Wohlseins, alles Eine Antwort auf <strong>die</strong> Liebkosungen <strong>de</strong>r entzücken<strong>de</strong>n<br />

Lüfte. (Schmidt, 1994: 59)<br />

Die Kin<strong>de</strong>r sprechen mal Unverständliches, mal anscheinend Belangloses, mal schreien sie nur,<br />

springen o<strong>de</strong>r schlen<strong>de</strong>rn. Egal, ob sie sprachlich tätig sind o<strong>de</strong>r nicht, ist ihre ganze Tätigkeit<br />

eine heilige Sprache, <strong>die</strong> auf <strong>de</strong>rselben Ebene ist wie <strong>die</strong> Sprache <strong>de</strong>r heiligen Natur, <strong>die</strong> <strong>die</strong>smal<br />

in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>r Luft erscheint. Denn <strong>die</strong> heilige Sprache geht sehr weit über <strong>die</strong> alltägliche<br />

menschliche Sprache hinaus, sie ist ein allgemein semiotisches Kommunikationssystem.<br />

Vorn am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Berggipfels stan<strong>de</strong>n wir nun, und sahn hinaus, in <strong>de</strong>n unendlichen Osten.<br />

Diotimas Auge öffnete sich weit, und leise, wie eine Knospe sich aufschließt, schloss das liebe Gesichtchen<br />

vor <strong>de</strong>n Lüften <strong>de</strong>s Himmels sich auf, ward lauter Sprache und Seele, und, als begänne sie <strong>de</strong>n Flug in <strong>die</strong><br />

Wolken, stand sanft empor gestreckt <strong>die</strong> ganze Gestalt, in leichter Majestät, und berührte kaum mit <strong>de</strong>n Füßen<br />

<strong>die</strong> Er<strong>de</strong>. (Schmidt, 1994: 64)<br />

Diotimas Gesicht war entzückt und öffnete sich vor <strong>de</strong>r Herrlichkeit <strong>de</strong>s Himmels. Sie berührte<br />

kaum mit <strong>de</strong>n Füßen <strong>die</strong> Er<strong>de</strong>, war verklärt und vergeistigt. Ihr Gesicht wur<strong>de</strong> „lauter Seele“ und<br />

begann <strong>de</strong>n tiefsten Kontakt mit <strong>de</strong>r Natur. Wenn Hyperion in <strong>die</strong>sem Kontext aussagt, dass Diotimas<br />

Gesicht lauter Sprache wur<strong>de</strong>, wo sie doch keine Worte sprach – und das bezeugt das Adverb<br />

„leise“, das hier so viel wie 'wortlos, lautlos' heißt –, dann wird wortlose Kommunikation<br />

präsupponiert. Da Diotima offensichtlich vergessen hat, dass Hyperion an ihrer Seite steht, kann<br />

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