die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Zusammenfassend kann man bei Höl<strong>de</strong>rlin insgesamt folgen<strong>de</strong> Zustän<strong>de</strong> unterschei<strong>de</strong>n:<br />
1. Den naiven und glücklichen Zustand <strong>de</strong>r Tiere, <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>r primitiven Menschen,<br />
<strong>die</strong> kein Bewusstsein besitzen, son<strong>de</strong>rn direkt <strong>de</strong>r Natur angehören, so dass es keine Erkenntnis<br />
gibt, <strong>die</strong> sie durch Sprache vermitteln können. Wenn sie sprechen, dann tun sie<br />
es in <strong>de</strong>rselben Sprache wie <strong>die</strong> Blumen und <strong>die</strong> Sterne, in <strong>de</strong>r natürlichen Sprache, <strong>die</strong><br />
nichts weiß, aber unbewusst das gute Gefühl zu treffen versteht.<br />
2. Den verkommenen und unglücklichen Zustand <strong>de</strong>r materialistischen und unwissen<strong>de</strong>n<br />
Menschen, <strong>die</strong> <strong>de</strong>n Kontakt mit <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>n religiösen Sinn für Schönheit und<br />
Menschlichkeit verloren haben, so dass ihre inhaltslos gewor<strong>de</strong>ne Sprache nichts Wichtiges<br />
mehr vermitteln kann. Dieser Zustand ist unnatürlich und gefährlich, weil man keine<br />
echte Freu<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>n kann, schnell lebensmü<strong>de</strong> wird und schließlich immer selbstzerstörerischer<br />
han<strong>de</strong>lt, und sei es auch nur auf emotionaler Ebene.<br />
3. Den entwickelten und glücklichen Zustand <strong>de</strong>r mystischen Erleuchtung, <strong>die</strong> man durch<br />
höchste Erkenntnis erreicht. Da kann man sich gar nicht äußern, weil <strong>die</strong>se Verzückung<br />
eine völlig unaussprechliche Erfahrung ist. Meistens ist <strong>die</strong>se Ekstase nur von kurzer<br />
Dauer, was gut so ist, da man sonst irrsinnig wür<strong>de</strong>.<br />
4. Den tragischen Zustand <strong>de</strong>s gera<strong>de</strong> Erleuchteten, <strong>de</strong>r daraufhin in <strong>die</strong> Wirklichkeit zurückkommt<br />
und versucht, sich an <strong>die</strong> Erfahrung zu erinnern und sie seinen Mitmenschen<br />
mitzuteilen. Aber <strong>die</strong>ser Vermittlungsversuch ist zum Scheitern verurteilt, weil <strong>die</strong><br />
menschliche Sprache unseres Zeitalters das Göttliche nur unzureichend darstellen kann.<br />
Deswegen wird er von seinen Mitmenschen nicht verstan<strong>de</strong>n und verachtet, so dass er<br />
zum Außenseiter wird. Der ehemals Erleuchtete ist nun im Dunkeln geblieben, seit<strong>de</strong>m<br />
<strong>de</strong>r Kontakt mit <strong>de</strong>m göttlichen Licht abgebrochen ist, und er fiebert sehnlichst danach.<br />
5. Den verrückten Zustand <strong>de</strong>sjenigen, <strong>de</strong>r zu lange in ekstatischer Verzückung verweilte,<br />
so dass er endgültig vergeistigt bleibt und <strong>de</strong>n Weg zurück in <strong>de</strong>n Alltag nicht mehr fin<strong>de</strong>n<br />
kann. Es ist nämlich für ein menschliches Wesen unmäßig und sogar tödlich, sich zu<br />
lange das Antlitz Gottes anzuschauen. Ein solcher Mensch verliert für immer <strong>die</strong> Fähigkeit,<br />
mit an<strong>de</strong>ren Leuten auf übliche Weise umzugehen, und seine Sprache ist nunmehr<br />
für <strong>die</strong> an<strong>de</strong>ren bloß ein unentzifferbares Gewirr. Es ist fraglich, ob ein Mensch, <strong>de</strong>r so<br />
isoliert von seinen Mitmenschen lebt, glücklich sein kann, auch wenn er versucht, sich<br />
mit <strong>de</strong>r Erinnerung ans Jenseits zu trösten.<br />
6. Den verlorengegangenen Zustand <strong>de</strong>r Menschen <strong>de</strong>s gol<strong>de</strong>nen Zeitalters – d.h. <strong>de</strong>r von<br />
Höl<strong>de</strong>rlin i<strong>de</strong>alisierten antiken Griechen – <strong>die</strong> sowohl naiv und natürlich als auch entwickelt<br />
und glücklich waren und eine Sprache besaßen, <strong>die</strong> immerzu vollkommen und heilig<br />
war, weil sie je<strong>de</strong>rzeit bereit war, <strong>die</strong> Götter bzw. das Göttliche an <strong>de</strong>r Natur zu benennen<br />
und zu besingen.<br />
Viele Texte Höl<strong>de</strong>rlins sind schwer verständlich, weil er <strong>die</strong>se sechs Zustän<strong>de</strong> zwar prinzipiell<br />
unterschei<strong>de</strong>t, aber auch oft unter ihnen schwankt. Zum Beispiel ist es <strong>de</strong>r Wunsch <strong>de</strong>s Dichters,<br />
<strong>de</strong>n sechsten Zustand zu erreichen, was aber unmöglich ist, weil jene Zeit für immer vorbei ist,<br />
und er muss sich damit abfin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n dritten zu erreichen, <strong>de</strong>n vierten möglichst gut zu ertragen,<br />
dabei sein Bestes zu leisten und sich vor <strong>de</strong>r Gefahr hüten, in <strong>de</strong>n fünften zu geraten. Höl<strong>de</strong>rlin<br />
verwischt auch <strong>die</strong> Grenze zwischen <strong>de</strong>m ersten und <strong>de</strong>m zweiten Zustand, in<strong>de</strong>m er für bei<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>n Vergleich mit <strong>de</strong>n Tieren und <strong>de</strong>n unwissen<strong>de</strong>n Leuten anwen<strong>de</strong>t. Das Bildnis <strong>de</strong>r Sonne, <strong>die</strong><br />
für das Göttliche steht, ist ebenfalls mehr<strong>de</strong>utig: Einerseits versengt sie <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>s zweiten<br />
Zustan<strong>de</strong>s, weil er sich aus Vermessenheit und Unkenntnis zu nah ans Verbotene wagt und<br />
bereit ist, sich selbst zu zerstören; an<strong>de</strong>rerseits versengt sie <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>s fünften Zustan<strong>de</strong>s,<br />
weil er sich aus Liebe zu Gott zu lange von <strong>de</strong>r wirklichen Welt abkehrte.<br />
52