die immanente sprachauffassung - Roderic - Universitat de València
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Ich hatte wenig mitgesprochen, ich hütete mich seit einiger Zeit, viel Worte zu machen von Dingen, <strong>die</strong><br />
das Herz zunächst angehn, meine Diotima hatte mich so einsilbig gemacht (Schmidt, 1994: 72)<br />
Das Verb „sich hüten“ präsupponiert etwas Gefährliches, Schädliches bzw. Schlechtes. Diotima<br />
ist <strong>die</strong> große Liebe Hyperions, er nennt sie oft göttlich, himmlisch und <strong>de</strong>rgleichen. Wenn sie ihn<br />
also „einsilbig“ – d.h. wortkarg – gemacht hat, dann ist es unbedingt etwas Positives. Und wenn<br />
jemand nunmehr etwas Neues und Positives tut, dann sagt man, er hat etwas gelernt. Hyperion<br />
hat also dank Diotima gelernt, wortkarg zu sein, er hat gelernt, dass es nicht gut ist, viel über<br />
Dinge zu re<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> gefühlsmäßig beson<strong>de</strong>rs wichtig sind. Eine solche Vorsicht kann aus zwei<br />
Grün<strong>de</strong>n empfehlenswert sein: Entwe<strong>de</strong>r weil man im Umgang mit wenig bekannten Menschen<br />
lieber diskret sein soll – aber <strong>die</strong>s ist hier unwahrscheinlich, weil Hyperion und Diotima hier unter<br />
Freun<strong>de</strong>n und Gleichgesinnten sind – o<strong>de</strong>r weil es einfach nicht geht und man immer nur<br />
missverstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann.<br />
O Bellarmin! das war Freu<strong>de</strong>, Stille <strong>de</strong>s Lebens, Götterruhe, himmlische, wun<strong>de</strong>rbare, unerkennbare Freu<strong>de</strong>.<br />
Worte sind hier umsonst, und wer nach einem Gleichnis von ihr fragt, <strong>de</strong>r hat sie nie erfahren. Das Einzige,<br />
was eine solche Freu<strong>de</strong> auszudrücken vermochte, war Diotimas Gesang, wenn er, in goldner Mitte, zwischen<br />
Höhe und Tiefe schwebte. (Schmidt, 1994: 78)<br />
Diotimas Liebe begeistert Hyperion so sehr, dass er sagt, Worte können „eine solche Freu<strong>de</strong>“ gar<br />
nicht „ausdrücken“, und wer versucht, sie mit „Gleichnissen“ – d.h. mit Umschreibungen durch<br />
Worte – zu erklären, <strong>de</strong>r hat keine Ahnung, wie „wun<strong>de</strong>rbar“ und „unerkennbar“ – d.h. unaussprechlich<br />
– sie ist.<br />
Das alte Athen lag jetzt zu sehr uns im Sinne, als dass wir hätten viel in <strong>de</strong>r Ordnung sprechen mögen, und<br />
ich wun<strong>de</strong>rte mich jetzt selber über <strong>die</strong> Art meiner Äußerungen. Wie bin ich doch, rief ich, auf <strong>die</strong> trocknen<br />
Berggipfel geraten, worauf ihr mich saht? (Schmidt, 1994: 94)<br />
Hyperion und seine Freun<strong>de</strong> waren so berührt, dass sie nicht richtig sprechen konnten, und <strong>de</strong>shalb<br />
waren Hyperions Äußerungen wun<strong>de</strong>rlich. Die hohe Intensität ihrer Gefühle beeinträchtigte<br />
ihre Sprachfähigkeit.<br />
Wir schwiegen eine Weile. Wir ehrten <strong>die</strong> trauren<strong>de</strong> Liebe, <strong>die</strong> in uns allen war, wir fürchteten uns, sich ihrer<br />
zu überheben in Re<strong>de</strong>n und stolzen Gedanken. (Schmidt, 1994: 112)<br />
Hyperion, Diotima und <strong>die</strong> an<strong>de</strong>ren sind traurig, weil er sich von ihnen trennen und in <strong>de</strong>n Krieg<br />
ziehen muss. Es ist ein<strong>de</strong>utig, dass sie fin<strong>de</strong>n, Worte seien in <strong>die</strong>ser Situation fehl am Platz.<br />
Diotima! mir geschieht oft wun<strong>de</strong>rbar, wenn ich mein unbekümmert Volk durchgehe und, wie aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />
gewachsen, einer um <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn aufsteht und <strong>de</strong>m Morgenlicht entgegen sich <strong>de</strong>hnt, und unter <strong>de</strong>n Haufen<br />
<strong>de</strong>r Männer <strong>die</strong> knattern<strong>de</strong> Flamme emporsteigt, wo <strong>die</strong> Mutter sitzt mit <strong>de</strong>m frieren<strong>de</strong>n Kindlein, wo <strong>die</strong><br />
erquicken<strong>de</strong> Speise kocht, in<strong>de</strong>s <strong>die</strong> Rosse, <strong>de</strong>n Tag witternd, schnauben und schrein, und <strong>de</strong>r Wald ertönt<br />
von allerschüttern<strong>de</strong>r Kriegsmusik, und rings von Waffen schimmert und rauscht – aber das sind Worte<br />
und <strong>die</strong> eigne Lust von solchem Leben erzählt sich nicht. (Schmidt, 1994: 125)<br />
Die Wendung „erzählt sich nicht“ be<strong>de</strong>utet 'lässt sich nicht erzählen, kann nicht erzählt wer<strong>de</strong>n'.<br />
Das eigene Gefühl kann <strong>de</strong>mnach durch Worte gar nicht mitgeteilt wer<strong>de</strong>n.<br />
Ich fand dich, wie du bist. Des Lebens erste Neugier trieb mich an das wun<strong>de</strong>rbare Wesen. Unaussprechlich<br />
zog <strong>die</strong> zarte Seele mich an und kindischfurchtlos spielt’ ich um <strong>de</strong>ine gefährliche Flamme. (Schmidt,<br />
1994: 142)<br />
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