09.01.2013 Aufrufe

Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

und die prekäre Existenz der Lohnabhängigen für alle spürbar zu, nicht obwohl, sondern weil im<br />

selben Zeitraum die Arbeitsproduktivität weiter angewachsen ist. 369<br />

3. M. stellt fest: "Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters,<br />

welches immer se<strong>in</strong>e Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß."<br />

Zwischenfrage 57: Gibt es e<strong>in</strong> Gesetz der absoluten Verelendung? (S.210)<br />

Die Lage des Arbeiters verschlechtert sich unabhängig <strong>von</strong> der Lohnhöhe: Hier spricht M. nicht<br />

mehr vom Gesamtarbeiter, sondern vom <strong>in</strong>dividuellen Arbeiter, der mit wachsender Produktivkraft<br />

der Arbeit zu e<strong>in</strong>em austauschbaren Faktor der Produktion, zu e<strong>in</strong>em "verstümmelten<br />

<strong>Teil</strong>menschen" degradiert wird, dessen Lebenszeit sich <strong>in</strong> Arbeitszeit verwandelt.<br />

M.s Perspektive ist viel umfassender als unsere heutige Armutsdebatte, die sich am E<strong>in</strong>kommen,<br />

bestenfalls an der Vermögensverteilung orientiert. Er beschreibt die Perspektive mit den Begriffen<br />

Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation. <strong>Das</strong><br />

s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Schlagworte, sondern nur Zusammenfassung se<strong>in</strong>er eigenen Analysen, <strong>in</strong> denen er<br />

der Wirkungsweise des Gesetzes unter klassischen, nicht modifizierten Bed<strong>in</strong>gungen nachspürt.<br />

Wie steht es heute unter den nicht klassischen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>es immer noch vielfältig regulierten<br />

Kapitalismus um M.s Perspektive? Gewiß wäre es unfair, gleich <strong>von</strong> "moralischer Degradation"<br />

zu sprechen, nur weil wir preiswerte T-Shirts oder preisgünstige Jeans tragen, die für mieseste<br />

Löhne unter schwierigsten Bed<strong>in</strong>gungen <strong>von</strong> praktisch rechtlosen Frauen und K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong><br />

weit entfernten Ländern hergestellt wurden. Es wäre unfair, aber nicht völlig abwegig. Und<br />

können wir nicht auch <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er Brutalisierung unserer Lebensverhältnisse sprechen, weil "Ellenbogenverhalten"<br />

am Arbeitsplatz, <strong>in</strong> Schule, Studium, auf der Autobahn und sonstwo als dynamisch<br />

und clever gelten und das Gesetz der Nächstenliebe (um nicht <strong>von</strong> Solidarität zu reden)<br />

tief <strong>in</strong> die Reservate <strong>von</strong> Sonntags- und Weihnachtsreden verdrängt wurde? Mit welcher Lässigkeit<br />

wird heute <strong>in</strong> Bild und Ton über brutale Kriege berichtet? Mit welcher Selbstverständlichkeit<br />

werden diese geführt, werden Bombardements und Leichen im Fernsehen live präsentiert? Jeder<br />

nehme e<strong>in</strong>e Tageszeitung oder das tägliche Fernsehprogramm und suche sich weitere Beispiele<br />

für das, was M. Brutalisierung und moralische Degradation nennt.<br />

Zum<strong>in</strong>dest sollten wir M.s H<strong>in</strong>weise als ernsthaften Denkanstoß nutzen: Was richtet das auf<br />

Wachstum ausgerichtete Akkumulationsregime mit unserer Lebensweise, mit unserer Umwelt,<br />

mit unseren Beziehungen zu anderen Menschen hier und sonstwo auf der Welt an? Ist es denn<br />

normal, wenn normale deutsche Bürger über Menschen <strong>in</strong> Polen oder Ch<strong>in</strong>a immer mehr als<br />

Konkurrenten für "unsere Produktion" und "unseren Export" reden? Liegt der gegenwärtig geschürten<br />

Islam-Furcht nicht doch der Ärger über die arabischen Völker zugrunde, die, wie es e<strong>in</strong><br />

Witz der US-Friedensbewegung sagt, frecherweise ihr Land auf unserem Öl gegründet haben? In<br />

diesem Wirrwarr der Propaganda und nationalistischen Impfungen hilft M. uns, die richtigen<br />

Fragen zu stellen. Und wer sich um eigene Antworten bemüht, könnte für sich wenigstens den<br />

Punkt Unwissenheit aus M.s Liste des Elends streichen.<br />

4. <strong>Das</strong> absolute, allgeme<strong>in</strong>e Gesetz der Akkumulation ist M.s zweite Schnittstelle, die <strong>von</strong> der<br />

politischen Ökonomie zur Analyse sozialer Verhältnisse führt. Während die Theorie vom relativen<br />

Mehrwert die Fragen nach den Strukturveränderungen des Gesamtarbeiters <strong>in</strong> Bezug auf den<br />

Produktionsprozess aufwarf, geht es jetzt um weitergehende Fragen: Wie wirken sich die wechselnden<br />

Akkumulationsregimes auf die Lage der Arbeiterklasse und die Lebenslagen ihrer <strong>Teil</strong>gruppen<br />

aus? Welche Folgen haben Veränderungen <strong>in</strong> der Struktur des Gesamtarbeiters, <strong>in</strong> der<br />

Organisation der betrieblichen Arbeitsabläufe, haben neue Technologien, Lohn- und Tarifsyste-<br />

124

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!