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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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schaftsforderung, die das derzeitige, zu Gunsten der Unternehmer verschobene Kräfteverhältnis<br />

wiedergibt. Der Streit um die M<strong>in</strong>destsätze für Hartz IV Empfänger steht im selben Kontext: Je<br />

niedriger diese Sätze, desto niedriger s<strong>in</strong>d (nach Verständnis der bürgerlichen Ökonomen) die<br />

"Anreizlöhne", die es dem Arbeitslosen "verlockend" ersche<strong>in</strong>en lassen, e<strong>in</strong>e Arbeit anzunehmen.<br />

Da es sogar an solchen "Jobs mit Anreizlöhnen" fehlt, hat diese Debatte freilich etwas Gespenstisches<br />

an sich.<br />

Auf was bürgerliche Ökonomen <strong>in</strong> diesem Zusammenhang verfallen, demonstrierte im September<br />

2008 e<strong>in</strong> Professor Thießen. Der berechnete nämlich sehr medienwirksam auf den Euro genau,<br />

was e<strong>in</strong> 170 cm großer Mann <strong>von</strong> 70 kg Körpergewicht als Lebensm<strong>in</strong>imum braucht: 132<br />

Euro pro Monat. Zu unserer Beruhigung s<strong>in</strong>d Wohnungs-, Strom- und Heizungskosten dar<strong>in</strong><br />

nicht enthalten. Thießen empfiehlt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Studie dem Hartz-Opfer, Leitungswasser zu tr<strong>in</strong>ken<br />

und natürlich auf Alkohol und Zigaretten vollständig zu verzichten. 519 Für Kommunikation s<strong>in</strong>d 2<br />

Euro im Monat e<strong>in</strong>geplant; immerh<strong>in</strong> doppelt so viel wie für "Freizeit, Unterhaltung, Kultur".<br />

Diesem offenbar ger<strong>in</strong>gerwertigen Gut gönnt der F<strong>in</strong>anzfachmann nur 1 Euro monatlich. 520<br />

Auch die Möblierung für die zwangsweise zugewiesene (am Wohnungsmarkt allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />

vorhandene) Billigwohnung hält der Professor für überflüssig, denn Möbel bekommt man laut<br />

dieser Studie entweder umsonst (wo?) oder als Altmöbel für 'nen Appel und 'n Ei. Nur sieht der<br />

Professor <strong>in</strong> den 132 Euro weder Eier noch Äpfel vor. Aber Thießen ist großzügig und gönnt<br />

dem Hartz IV Empfänger tatsächlich e<strong>in</strong>en Fernseher, vermutlich, um sich f<strong>in</strong>anzwirtschaftlich<br />

auf dem Laufenden zu halten. Nur kaputt gehen darf die Glotze nicht. Reparaturen und dergleichen<br />

kommen bei Herrn Professor nicht vor.<br />

Bemerkenswert ist an Thießens Beitrag gar nicht mal der Zynismus; da s<strong>in</strong>d wir <strong>in</strong> der Ökonomie<br />

seit 200 Jahren e<strong>in</strong>iges gewöhnt. Viel trauriger ist die ernsthafte Debatte darüber <strong>in</strong> vielen Medien.<br />

Klar, die e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d empört über die frei erfundenen Zahlen und die Reduzierung menschlicher<br />

Bedürfnisse auf Aldi-Tütensuppen und Leitungswasser. Die anderen f<strong>in</strong>den sie bedenkenswert<br />

und verkaufen uns mal wieder, jetzt aber mit wissenschaftlichem Rückenw<strong>in</strong>d, die "völlig<br />

überhöhte M<strong>in</strong>destsicherung" als Grund für die "fehlende Arbeitsbereitschaft" der Hartz-Opfer.<br />

Und darum g<strong>in</strong>g es schließlich bei der Auftragsarbeit: Jede Forderung nach Erhöhung der offensichtlich<br />

viel zu niedrigen Hartz-Leistungen muß sich plötzlich gegen diesen pseudoakademischen<br />

Flaturanden rechtfertigen. Denn das ist der Kernsatz aus Thießens Beitrag zur Politikberatung:<br />

"Auf der Basis der <strong>von</strong> der Gesellschaft derzeit formulierten Ziele ist eher e<strong>in</strong> Absenken<br />

der M<strong>in</strong>destsicherung als e<strong>in</strong> Anstieg gerechtfertigt."<br />

Natürlich hat Thießens Studie nichts mit Wissenschaft zu tun. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>e beauftragte Wortmeldung<br />

e<strong>in</strong>es gut bezahlten Propagandisten, der das Glück hatte, e<strong>in</strong>en Wiedervere<strong>in</strong>igungslehrstuhl<br />

<strong>in</strong> Chemnitz zu ergattern. Mit Steuergeldern, aber <strong>in</strong> enger Zusammenarbeit mit der<br />

Commerzbank und der Reuters AG, durfte er den Studiengang "Investment Bank<strong>in</strong>g" für<br />

Deutschland erf<strong>in</strong>den. 521 Dazu qualifizierten ihn kurze Tätigkeiten als Devisenspekulant und Unternehmenscontroller.<br />

Für solche Figuren hätte Meister M., nach dem Chemnitz e<strong>in</strong>st benannt<br />

war, nicht e<strong>in</strong>mal die Bezeichnung "Vulgärökonom" verwendet.<br />

Wir empfehlen dem Investment-Fachmann Thießen unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Wiederholung se<strong>in</strong>er Studie<br />

zur M<strong>in</strong>destsicherung. Dann aber nicht e<strong>in</strong>fach als Gedankenexperiment mit dem Taschenrechner,<br />

wie bisher, sondern zur M<strong>in</strong>destsicherung der Wissenschaftlichkeit als echten Feldversuch.<br />

Wohlgemerkt: Nicht als Selbstversuch! Dafür ist e<strong>in</strong> deutscher Professor viel zu teuer. Aber vielleicht<br />

mit se<strong>in</strong>en Investment-Bank<strong>in</strong>g-Studenten? Dann hätte Thießen tatsächlich noch die<br />

Chance, <strong>in</strong> die Geschichte der Wissenschaft e<strong>in</strong>zugehen: Als erster deutscher Lehrstuhlbesetzer,<br />

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