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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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Weiterführende Anmerkungen<br />

1 <strong>Das</strong> ist He<strong>in</strong>es Vorschlag <strong>von</strong> 1828 im Wortlaut: "Schickt e<strong>in</strong>en Philosophen nach London, beileibe ke<strong>in</strong>en Poeten!<br />

Schickt e<strong>in</strong>en Philosophen h<strong>in</strong> und stellt ihn an e<strong>in</strong>e Ecke <strong>von</strong> Cheapside, er wird hier mehr lernen als aus<br />

allen Büchern der letzten Leipziger Messe; und wie die Menschenwogen ihn umrauschen, so wird auch e<strong>in</strong> Meer<br />

<strong>von</strong> neuen Gedanken vor ihm aufsteigen, der ewige Geist, der darüber schwebt, wird ihn anwehen, die verborgensten<br />

Geheimnisse der gesellschaftlichen Ordnung werden sich ihm plötzlich offenbaren, er wird den Pulsschlag<br />

der Welt hörbar vernehmen und sichtbar sehen – denn wenn London die rechte Hand der Welt ist, die tätige,<br />

mächtige rechte Hand, so ist jene Straße, die <strong>von</strong> der Börse nach Down<strong>in</strong>g Street führt, als die Pulsader der<br />

Welt zu betrachten." (He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e, Reisebilder 4.<strong>Teil</strong>, 1828)<br />

2 Die französische Regierung ordnete im August 1849 M.s Verbannung <strong>in</strong> das Departement Morbihan an, das zu<br />

der Zeit als ausgesprochen ungesunde Gegend galt. M. bezeichnete sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an Engels vom 23.8.1849<br />

als die "Pont<strong>in</strong>ischen Sümpfe der Bretagne".*<br />

Da <strong>in</strong> Frankreich zur Zeit des Briefes die Cholera grassierte, sah M. <strong>in</strong> der Verbannung e<strong>in</strong>en "verkleideten Mordversuch".<br />

War die französische Regierung wirklich so weitsichtig oder hielt sie M. e<strong>in</strong>fach nur für e<strong>in</strong> preußisches<br />

Ärgernis? Jedenfalls war die angedrohte Verbannung <strong>in</strong> die bretonische Abgeschiedenheit der Grund für M.s<br />

Flucht nach London wenige Tage später.<br />

*Die Pont<strong>in</strong>ischen Sümpfe waren <strong>in</strong> der Antike e<strong>in</strong> unbewohnbares Seuchengebiet südöstlich <strong>von</strong> Rom; übrigens<br />

e<strong>in</strong>e Folge des ungehemmten Raubbaus an den Wäldern für den Schiffsbau und andere Rüstungsprojekte des<br />

römischen Imperiums.<br />

Wer sich mit M. befaßt, muß solche Vergleiche wie auch die vielen Anspielungen im "Kapital" auf Figuren und<br />

Geschichten der antiken Mythologie <strong>in</strong> Kauf nehmen. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Folgen der sogenannten humanistischen Bildung,<br />

die zu M.s Zeit üblicherweise <strong>in</strong> ziemlich starker Dosierung allen Schülern höherer Bildungsanstalten verabreicht<br />

wurde.<br />

3 Im Lesesaal des Britischen Museums verbrachte M. Stunden um Stunden und ersaß sich durch Ausdauer zahlreiche<br />

Furunkeln am Allerwertesten, <strong>von</strong> denen im Briefwechsel mit Engels <strong>in</strong> höchst drastischer Weise die Rede<br />

ist. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> andere Furunkel-Theorie vertrat der schreibwütige <strong>Marx</strong>-Verabscheuer Künzli <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em phantasievollen<br />

Psychogramm über M.s Leben <strong>von</strong> 1966. Dar<strong>in</strong> führt er kurz und bündig alle Furunkel und Abszesse, unter denen<br />

M. so sehr litt, auf jüdischen Selbsthass und M.s privaten Selbstekel zurück. Naja... irgendwie ist Psychosomatik<br />

e<strong>in</strong>e ganz praktische Theorie.<br />

* Arnold Künzli: <strong>Karl</strong> <strong>Marx</strong>. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Psychographie; Wien, Frankfurt, Zürich: Europa Verlag 1966<br />

4 Wir halten es auch <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht mit Herrn M., der sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Vorwort zum "Kapital" solche Leser<br />

wünschte, "die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen." (MEW 23, S.12) Wir stören uns nicht daran,<br />

dass Rudolf Hilferd<strong>in</strong>g, <strong>von</strong> dem später noch die Rede se<strong>in</strong> wird, M.s Wunsch als die e<strong>in</strong>zige unberechtigte<br />

Unterstellung bezeichnete, die dieser je gemacht habe. Hilferd<strong>in</strong>gs Stichelei g<strong>in</strong>g se<strong>in</strong>erzeit gegen e<strong>in</strong>en wirklich<br />

gerissenen <strong>Marx</strong>-Verreißer, nämlich Eugen Böhm-Bawerk, und kann uns daher ke<strong>in</strong>eswegs treffen, oder?<br />

5 Der Kontrast zwischen Arm und Reich, der M.s Londoner Alltag bestimmte, ist nicht verschwunden. Gewiß f<strong>in</strong>det<br />

man ihn nicht <strong>in</strong> allen Städten so anschaulich wie hier im Quartier Parasaipolis <strong>in</strong> São Paulo, wo sich die Betuchten<br />

der Mittelschicht <strong>von</strong> den besser gestellten Armen auch baulich klar distanzieren, aber dennoch <strong>in</strong> Sichtweite<br />

bleiben. Wie steht es bei uns? Auch bei uns gibt es erhebliche Unterschiede im Reichtum, die unterschiedliche<br />

Wohnviertel erzeugen, wenn sich auch nicht die scharfen Kontraste des 19. Jahrhunderts f<strong>in</strong>den lassen.<br />

Dennoch: Zwischen den heruntergewirtschafteten Wohnsilos, die <strong>in</strong> den unfreundlichen Gegenden <strong>von</strong> Industrie<br />

und Schnellstraßen geschmückt werden, und den Villenvierteln <strong>in</strong> den grünen Vororten, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e Menge<br />

Grundstück um die Häuser herum und hohe Zäune den wenigen Bewohnern ungestörte Privatheit sichern, liegen<br />

auch bei uns buchstäblich Welten. Und dabei s<strong>in</strong>d die <strong>in</strong> den guten Wohnvierteln noch nicht e<strong>in</strong>mal richtig reich.<br />

Die wirklich Reichen siedeln noch anonymer und noch luxuriöser, auf Arealen <strong>in</strong> Aspen oder St. Moritz oder Südfrankreich<br />

oder auf den Bahamas oder sonst wo <strong>in</strong> Luxuswohnungen der Metropolen, verwöhnt durch e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />

Armee <strong>von</strong> Bediensteten und geschützt durch eigene Polizei vor den Unbilden der sozialen Realitäten.<br />

6 <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong> volles Programm: Nicht nur Armut und Reichtum beschreiben, sondern herausf<strong>in</strong>den, wie beide entstehen.<br />

Nicht die technischen Innovationen feiern, sondern die Triebkräfte und die Folgen ihrer kapitalistischen<br />

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