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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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tun hatten. Ke<strong>in</strong> Wunder, dass mit der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse der Alkoholismus<br />

e<strong>in</strong> profitables soziales Massenphänomen wurde.<br />

88 He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e erlebte diese Welt schon vierzig Jahre vor dem Ersche<strong>in</strong>en des "Kapital". Er schreibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Reisebericht aus London:<br />

"Die Armut <strong>in</strong> Gesellschaft des Lasters und des Verbrechens schleicht erst des Abends aus ihren Schlupfw<strong>in</strong>keln.<br />

Sie scheut das Tageslicht um so ängstlicher, je grauenhafter ihr Elend kontrastiert mit dem Übermute des Reichtums,<br />

der überall hervorprunkt; nur der Hunger treibt sie manchmal um Mittagszeit aus dem dunkeln Gäßchen,<br />

und da steht sie mit stummen, sprechenden Augen und starrt flehend empor zu dem reichen Kaufmann, der geschäftig-geldklimpernd<br />

vorübereilt, oder zu dem müßigen Lord, der, wie e<strong>in</strong> satter Gott, auf hohem Roß e<strong>in</strong>herreitet<br />

und auf das Menschengewühl unter ihm dann und wann e<strong>in</strong>en gleichgültig vornehmen Blick wirft, als wären<br />

es w<strong>in</strong>zige Ameisen oder doch nur e<strong>in</strong> Haufen niedriger Geschöpfe, deren Lust und Schmerz mit se<strong>in</strong>en Gefühlen<br />

nichts geme<strong>in</strong> hat – denn über dem Menschenges<strong>in</strong>del, das am Erdboden festklebt, schwebt Englands<br />

Nobility, wie Wesen höherer Art, die das kle<strong>in</strong>e England nur als ihr Absteigequartier, Italien als ihren Sommergarten,<br />

Paris als ihren Gesellschaftssaal, ja die ganze Welt als ihr Eigentum betrachten. Ohne Sorgen und ohne<br />

Schranken schweben sie dah<strong>in</strong>, und ihr Gold ist e<strong>in</strong> Talisman, der ihre tollsten Wünsche <strong>in</strong> Erfüllung zaubert. Arme<br />

Armut! wie pe<strong>in</strong>igend muß de<strong>in</strong> Hunger se<strong>in</strong>, dort, wo andre im höhnenden Überflusse schwelgen!" (He<strong>in</strong>e:<br />

Reisebilder, Vierter <strong>Teil</strong>; 1828)<br />

Was für He<strong>in</strong>e die englische Nobility war, ist für unsere Zeit der JetSet, s<strong>in</strong>d die Familien mit ererbtem und<br />

erkungeltem Vermögen. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong> paar hunderttausend Leute weltweit mit e<strong>in</strong>em freilich großen Kometenschweif<br />

<strong>von</strong> Speichelleckern, selbstverliebten und künstlich erzeugten Promis, <strong>von</strong> Kulturschickeria und politischen<br />

Handlangern.<br />

Im globalen Zeitalter reicht die W<strong>in</strong>tersaison an der Cote d'Azur nicht mehr. Die bevölkern beständig die First<br />

Class der L<strong>in</strong>ienflüge oder haben e<strong>in</strong>en eigenen Jet oder s<strong>in</strong>d mit eigener Großyacht unterwegs. Die bevölkern die<br />

VIP-Lounges der Flughäfen und Superhotels. Die zirkulieren ständig zwischen 5th Avenue, Champs Elysees, zwischen<br />

St.Moritz, Monaco, Bermuda und Aspen. Wenn es die mal langweilt, kaufen sie sich e<strong>in</strong>en Fußballvere<strong>in</strong><br />

oder e<strong>in</strong>en teuren neuen Begleiter oder e<strong>in</strong>en Rennstall oder e<strong>in</strong>e weitere Insel <strong>in</strong> der Karibik oder e<strong>in</strong>en Ghostwriter<br />

für die eigene Biografie.<br />

Nur e<strong>in</strong>es unterscheidet sie <strong>von</strong> He<strong>in</strong>es Nobility: Sie s<strong>in</strong>d noch reicher und sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihren mit Geld abgeschotteten<br />

Luxuswelten dem Anblick der Armut längst nicht mehr ausgesetzt.<br />

89 Ohne Frage: Auch das materielle Lebensniveau der Gesellschaft im Ganzen ist gestiegen. Zwar außerordentlich<br />

ungleich, aber gestiegen. Auf diesen Umstand weisen uns die Neo- und Ordoliberalen, die Unternehmerverbände<br />

und andere Advokaten des Systems immer wieder h<strong>in</strong>. Wir könnten im Gegenzug darauf h<strong>in</strong>weisen, dass <strong>in</strong> jedem<br />

Kampf um höhere Löhne und soziale Rechte dieselben Advokaten Vorzeichen des Weltuntergangs erkennen.<br />

Wir könnten auf die weltweiten sozialen Katastrophen verweisen, die <strong>von</strong> denselben Advokaten offenbar als<br />

Preis dieses "Fortschritts" akzeptiert werden, natürlich verbunden mit der festen Überzeugung, das irgendwann<br />

e<strong>in</strong>mal alle Menschen da<strong>von</strong> Nutzen haben und die Opfer früherer Generationen dann nachträglich irgendwie<br />

e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n bekommen.<br />

Um sich klar zu machen, dass der gewachsene Lebensstandard <strong>in</strong> den Metropolen tatsächlich nur e<strong>in</strong> hart umkämpfter<br />

Nebeneffekt, ke<strong>in</strong>eswegs das Hauptanliegen ist, muss man die Reaktion derselben Advokaten beobachten,<br />

wenn die Renditen purzeln, wie <strong>in</strong> der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Da ist man ohne Zaudern bereit,<br />

Massenentlassungen, Stillegungen oder Verlagerungen ohne Abwägung der sozialen Folgen zu beschließen. Da<br />

werden die Sozialausgaben der Zukunft für die aktuelle Rettung <strong>von</strong> Banken und Gläubigern ausgegeben. Da<br />

werden arme Länder ohne Zögern des wenigen Kapitals wieder beraubt, das man mit verme<strong>in</strong>tlicher Großzügigkeit<br />

gegen ordentliche Rendite zuvor bereitgestellt hatte. In kürzester Zeit wurden Millionen Menschen, die zuvor<br />

wenigstens bescheidene Löhne erhielten, während der Krise wieder <strong>in</strong>s Elend gestürzt. <strong>Das</strong> Ziel, bis 2015 die Zahl<br />

der Personen, die täglich weniger als 1,25 $ zur Verfügung haben, zu halbieren, ist gefährdet. Wegen der Krise<br />

ist man um Jahre zurückgeworfen. Der Internationale Währungsfond rechnet mit e<strong>in</strong>igen Jahren, die es dauern<br />

wird, um nur den alten Zustand wieder herzustellen. Wenn man überhaupt soviel Zeit hat bis zur nächsten Krise.<br />

Im Falle e<strong>in</strong>es Falles geht allemal Rendite vor Gesellschaft. Denn der S<strong>in</strong>n des Ganzen ist die Rendite für Eigentümer<br />

und Investoren: Gesellschaftlichen Wohlstand gibt es nur dann und soweit, wie er mit den Renditeforderungen<br />

vere<strong>in</strong>bar ist. Oder soweit, wie dieser Wohlstand erkämpft wird.<br />

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