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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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ste<strong>in</strong>erne Wald <strong>von</strong> Häusern und dazwischen der drängende Strom lebendiger Menschengesichter mit all ihren<br />

bunten Leidenschaften, mit all ihrer grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses – ich spreche <strong>von</strong><br />

London." (aus: He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e, Reisebilder 4.<strong>Teil</strong>, 1828)<br />

58 In se<strong>in</strong>er frühen Arbeit "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" befaßt sich M. erstmals mit den materiellen<br />

Voraussetzungen revolutionärer Veränderungen und f<strong>in</strong>det, selbst noch suchend, für die Notwendigkeit materialistischer<br />

Analyse diese wunderbare Formulierung: "Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung<br />

drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen." (MEW 1, S.386)<br />

59 Der Londoner Journalist Henry Mayhew erstellte e<strong>in</strong> 2000-seitiges Kompendium über die Armen <strong>von</strong> London,<br />

das <strong>in</strong> den 1860er Jahren recht bekannt war. Dar<strong>in</strong> unterscheidet Mayhew alle<strong>in</strong> für das auf der Straße lebende<br />

"Londoner Straßenvolk" sechs große Gruppen, <strong>von</strong> denen die Straßenverkäufer e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d. Nach der Art ihres Erwerbs<br />

klassiert Mayhew alle<strong>in</strong> für diese Gruppe <strong>von</strong> etwa 40.000 Straßenhändlern acht Untergruppen, vor allem<br />

nach Art der Waren und nach Art der Warenbeschaffung.<br />

Die Kle<strong>in</strong>händler <strong>in</strong> London und <strong>in</strong> allen anderen Industriestädten spielten e<strong>in</strong>e sehr wichtige Rolle für die langsame,<br />

aber stetige Herausbildung des Massenmarkts für <strong>in</strong>dustrielle Massenware. Sie füllten die Nischen, verkauften<br />

Waren aus zweiter und dritter Hand und saugten die letzten Farth<strong>in</strong>gs an Kaufkraft. Sie waren e<strong>in</strong> wichtiger<br />

<strong>Teil</strong> jener Zirkulationsagenten, <strong>von</strong> denen wir noch hören werden, und konnten flexibel der wechselnden<br />

Kaufkraft <strong>in</strong> den verschiedenen sozialen Gruppen folgen.<br />

Mayhews Buch ist mit Statistiken (wie die abgebildete über die Straßenhändler), mit anekdotischen Beschreibungen<br />

und viel Unterwelt-Schauder angefüllt. Der Lesestoff für die Mittelschichten ist ke<strong>in</strong>eswegs frei <strong>von</strong> bornierten<br />

Vorurteilen, aber Mayhews ungebremste Leidenschaft für Zahlen macht das Buch dennoch zu e<strong>in</strong>er Fundgrube.<br />

In mancher H<strong>in</strong>sicht f<strong>in</strong>det man dar<strong>in</strong> die viktorianische Variante e<strong>in</strong>er Entwicklung, die sich heute <strong>in</strong> den<br />

Großstädten Afrikas, Asiens und Late<strong>in</strong>amerikas auf neue Weise vollzieht.<br />

Wer sich e<strong>in</strong> Bild über Mayhew's London machen will, das ja auch M.s London war, f<strong>in</strong>det das Buch bei Google.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs zeigt uns Mayhew nur e<strong>in</strong> "so sieht es aus"-London. Bei M. haben wir es mit dem "warum ist das<br />

so?" London zu tun. Verschiedene Perspektiven eben.<br />

Henry Mayhew, London Labour and the London Poor. Cyclopaedia of the Condition and Earn<strong>in</strong>gs of those that<br />

will work, those that connot work, and those that will not work. Volume II; London: Griff<strong>in</strong>, Bohn & Co. 186<strong>1.</strong><br />

Von der stark gekürzten deutschen Ausgabe ist wegen der merkwürdigen Textauswahl abzuraten.<br />

60 Schon zu Lebzeiten Ricardos war der neu entstandene Klassenkonflikt zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse<br />

nicht mehr zu übersehen. Spätestens der drei Wochen dauernde Weberstreik <strong>von</strong> 1812, an dem 40.000 Arbeiter<br />

teilnahmen, war für die herrschende Klasse e<strong>in</strong> deutliches Zeichen, dass die geruhsamen Zeiten vorbei waren.<br />

Der e<strong>in</strong>stige schroffe Gegensatz zu den Grundbesitzern verlor an Bedeutung, natürlich auch deshalb, weil viele<br />

der neureichen Bourgeois sich längst <strong>in</strong> die alte Grundbesitzerklasse e<strong>in</strong>gekauft hatten.<br />

61 Ende 1856 verläßt Familie <strong>Marx</strong> die enge Behausung <strong>in</strong> Soho und bezieht e<strong>in</strong>e Wohnung <strong>in</strong> Grafton Terrace 9<br />

<strong>in</strong> der Nähe <strong>von</strong> Hampstead Hill. Es ist e<strong>in</strong>e deutliche Verbesserung der Wohnverhältnisse, die wegen Jennys Erbe<br />

nach dem Tod der Mutter möglich wurde. Die Wohnung hat e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Garten und 7 Räume, e<strong>in</strong>schließlich<br />

Küche. Jennys sarkastischer Kommentar: "Wir s<strong>in</strong>d unentwegt dabei, bürgerlich zu werden". Die E<strong>in</strong>weihungsparty<br />

wird wegen der Geschenke, die Engels aus Manchester sendet (We<strong>in</strong> und Champagner) sehr ausgelassen.<br />

Es geht aufwärts. Die letzten Jahre se<strong>in</strong>es Lebens wohnt M. mit se<strong>in</strong>er Familie ab 1875 <strong>in</strong> der Maitland Park<br />

Road <strong>in</strong> soliden kle<strong>in</strong>bürgerlichen Wohnverhältnissen. Endlich auch aus Europa zufließende Tantiemen und Engels<br />

Zuschüsse machen den bescheidenen Aufstieg möglich. �Jenny <strong>Marx</strong> (1814-1881)<br />

62 In e<strong>in</strong>em der gar nicht seltenen "Männer-Briefe" an Engels bezeichnet M. sich als "lendenstarken Familienvater",<br />

dessen Ehe produktiver sei als se<strong>in</strong> Gewerbe. <strong>Das</strong> war 1851, <strong>in</strong> der Frühzeit des Londoner Exils, als es der<br />

Familie an allem Nötigen fehlte, auf das der gelernte Kle<strong>in</strong>bürger M. und se<strong>in</strong>e aus e<strong>in</strong>er Adelsfamilie stammende<br />

Ehefrau Jenny nur schwer verzichten konnten (MEW 27, S.173). M.s andere Seite tritt <strong>in</strong> Liebesgedichten und<br />

Briefen an Jenny <strong>von</strong> Westphalen hervor, mit der er seit 1836 verlobt und seit 1843 verheiratet war. Wir f<strong>in</strong>den<br />

M.s Brief vom 15.12.1863 an se<strong>in</strong>e "liebe gute Herzensjenny" aufschlußreich. Um den Nachlaß se<strong>in</strong>er verstorbenen<br />

Mutter zu regeln, war M. nach Trier gereist. Er schreibt als alter Gockel: "Ich b<strong>in</strong> täglich zum alten<br />

Westphalschen Hause gewallfahrt (<strong>in</strong> der Römerstraße), das mich mehr <strong>in</strong>teresiert hat als alle römischen Altertümer,<br />

weil es mich an die glücklichste Jugendzeit er<strong>in</strong>nert und me<strong>in</strong>en besten Schatz barg. Außerdem fragt man<br />

mich täglich, l<strong>in</strong>ks und rechts, nach dem quondam 'schönsten Mädchen <strong>von</strong> Trier' und der 'Ballkönig<strong>in</strong>'. Es ist<br />

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