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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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verlängern. Aussichtslos, damit etwas gew<strong>in</strong>nen zu wollen. Die schnell sich verbreitenden Personal-Kontroll-<br />

Systeme, die mit den elektronischen Ausweisen nicht nur die Anwensenheit im Betrieb, sondern auch jeden Besuch<br />

beim Kaffeeautomaten, jede P<strong>in</strong>kelpause, jede M<strong>in</strong>ute der Mittagspause dokumentieren können, s<strong>in</strong>d schon<br />

<strong>in</strong>stalliert und warten nur noch auf den Große<strong>in</strong>satz. Sogar der gesamte Aktionsraum e<strong>in</strong>es Beschäftigten läßt<br />

sich kontrollieren und se<strong>in</strong>em Leistungsprofil h<strong>in</strong>zufügen. Da erfüllt sich mancher uralte Unternehmertraum. Unter<br />

Big Brothers Bewachung bleibt der Belegschaft nur völlige Unterwerfung (womöglich mit gegenseitigem Mobb<strong>in</strong>g)...<br />

oder geme<strong>in</strong>samer Widerstand. Diese Lektion muß aber unter den veränderten Bed<strong>in</strong>gungen erst wieder<br />

voller Mühen gelernt werden.<br />

264 Deshalb galt ihnen auch so lange die extensive Verwertung, also die Steigerung des Mehrwerts durch Verlängerung<br />

der Arbeitszeit und durch Vermehrung der gleichzeitig angewendeten Arbeitskräfte, als der naheliegende<br />

Weg, so wie der feudale Grundherr se<strong>in</strong>en Reichtum durch Ausweitung des Grundbesitzes und mehr Leibeigene<br />

und Pächter steigerte. Die junge Bourgeoisie, die ihre Rechte <strong>in</strong> England gegen den alten Adel durchsetzte,<br />

etablierte sich nicht zufällig als e<strong>in</strong>e Art neuer Adel. Sie kopierte den Lebensstil ihrer Vorgänger. Landerwerb<br />

und Leben als Grundbesitzer war für die neue Fabrikantenklasse der angestrebte Lebensstil. Entsprechend feudal<br />

und selbstherrlich war die Haltung des Fabrikanten zu "se<strong>in</strong>en Arbeitskräften". Die doppelte Freiheit des Lohnarbeiters<br />

war aus se<strong>in</strong>er Sicht nur für den Kapitalisten gemacht, damit der sich die Freiheit nehmen konnte, ganz<br />

nach Bedarf zu heuern und zu feuern. <strong>Das</strong> ist die uns auch heute noch bestens bekannte "Gutsherrenart".<br />

265 Die "Zahl der Hände" war das übliche Maß des frühkapitalistischen Unternehmers. Er war praktisch noch Alle<strong>in</strong>herrscher<br />

im Klassenkampf. Er brauchte sich ke<strong>in</strong>e Verzierungen abzubrechen und <strong>von</strong> "Mitarbeitern" und<br />

"Unternehmensphilosophie" zu schwatzen. Die an den Werktischen saßen waren hands; nur das, was ihre Hände<br />

leisteten, war <strong>von</strong> Interesse. Für Kopf und Geist gab es bestenfalls Erbauungssprüche aus der Bibel an den<br />

Wänden der frühen Werkhallen, sozusagen als Schmiermittel für das unternehmerische Gewissen. "Im Schweiße<br />

de<strong>in</strong>es Angsichts sollst Du de<strong>in</strong> Brot verdienen" war vermutlich unter den Top Ten für geistig-moralisch aufbauenden<br />

Wandschmuck - und als Unternehmensphilosophie auch völlig ausreichend.<br />

266 Es steht ausser Frage, dass die <strong>in</strong>dustrielle Umwälzung, die zu Beg<strong>in</strong>n des 19. Jahrhunderts <strong>in</strong> England e<strong>in</strong>setzte,<br />

auch schon 100 Jahre früher hätte beg<strong>in</strong>nen können. Tatsächlich brauchte die neue Produktionsweise e<strong>in</strong>ige<br />

Jahrzehnte, um sich der längst schon vorhandenen technischen Erf<strong>in</strong>dungen, etwa der Dampfkraft, auch<br />

produktiv zu bedienen. Erst die Vitalisierung durch die klassenkämpferischen Aktionen des Gesamtarbeiters<br />

brachten die Bourgoisie <strong>in</strong> Schwung; jetzt entdeckten Sie, dass sich Technik auch hervorragend eignet, um aufmüpfige<br />

Arbeiter zu diszipl<strong>in</strong>ieren. Auch die Technisierung des Arbeitsprozesses wird zu e<strong>in</strong>em Instrument des<br />

Klassenkampfs. Wir kommen darauf noch zu sprechen.<br />

267 Wer den vierten Abschnitt im <strong>1.</strong> Band des "Kapital" liest, wird ke<strong>in</strong>e Technik- oder Wirtschaftsgeschichte,<br />

sondern so etwas wie e<strong>in</strong>e arbeitssoziologische Pionierarbeit f<strong>in</strong>den; dabei geht es immer wieder um die Frage,<br />

wie sich die Stellung der lebendigen Arbeit im Produktionsprozess verändert und vom führenden Akteur zu e<strong>in</strong>em<br />

Anhängsel der Werkzeugmasch<strong>in</strong>e wird. M. zeigt, wie die zunehmende Technisierung des Produktionsprozesses<br />

mit dem Fabriksystem die eigentliche Grundlage des modernen Kapitalismus im 19. Jahrhundert hervorbr<strong>in</strong>gt.<br />

Dieser Prozess ist ke<strong>in</strong>eswegs planvoll; schließlich dauert es fast 100 Jahre, bis Kapitalisten die Möglichkeiten der<br />

Dampfkraft erkennen und im großen Stil e<strong>in</strong>setzen. Tatsächlich erfolgen die Neuerungen häufiger als Reaktion<br />

auf Veränderungen, die der Klassenkampf hervorbr<strong>in</strong>gt, sowohl der Kampf zwischen Unternehmern und Belegschaften,<br />

als auch der Konkurrenzkampf der Kapitalisten untere<strong>in</strong>ander.<br />

M.s historische Skizze zum relativen Mehrwert ist <strong>von</strong> großer Bedeutung, denn mit der Manufaktur- und Fabrikperiode<br />

nimmt er e<strong>in</strong>e Unterscheidung der Entwicklungsetappen <strong>in</strong>nerhalb der kapitalistischen Produktionsweise<br />

vor. An der Analyse solcher Entwicklungsetappen s<strong>in</strong>d wir brennend <strong>in</strong>teressiert, denn wir wollen schließlich noch<br />

herausf<strong>in</strong>den, ob es besondere Merkmale gibt, die den gegenwärtigen Kapitalismus als spezifische Periode se<strong>in</strong>er<br />

Entwicklung auszeichnen.<br />

Wer genauer wissen will, auf welchen Schleich-, Irr- und Holzwegen sich die kapitalistische Produktionsweise zur<br />

unbestritten herrschenden Produktionsweise entwickelt hat, f<strong>in</strong>det aus marxistischer Sicht für Großbritannien bei<br />

Hobsbawm (1968a; 1968b) oder für Deutschland bei Mottek (1957; 1964) e<strong>in</strong>e gute Übersicht. Wer an den<br />

welthistorischen Dimensionen des Übergangs zum kapitalistischen Zeitalter im 15. bis 18. Jahrhundert <strong>in</strong>teressiert<br />

ist, wird Braudels (1979) Darstellung aus nicht marxistischer Sicht auf jeden Fall spannend und anregend<br />

f<strong>in</strong>den.<br />

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