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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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unter Bed<strong>in</strong>gungen, welche den re<strong>in</strong>en Vorgang des Prozesses sichern. Was ich <strong>in</strong> diesem Werk zu erforschen<br />

habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse.<br />

Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies der Grund, warum es zur Hauptillustration me<strong>in</strong>er theoretischen<br />

Entwicklung dient." (MEW 23, S.12)<br />

Aber M. kennt se<strong>in</strong> deutsches Publikum, das sich seitdem offenbar nicht sehr verändert hat. Als die F<strong>in</strong>anzkrise<br />

im September 2008 mit dem Zusammenbruch <strong>von</strong> Banken wirklich nicht mehr zu leugnen war, rief man <strong>in</strong><br />

Deutschland entschlossen aus: <strong>Das</strong> ist alles nur Folge dieses speziellen US-Kapitalismus und hat mit unserm<br />

nichts zu tun! M. sah solche Reaktionen auch für se<strong>in</strong>e Analyse des englischen Kapitalismus voraus. Im Vorwort<br />

schreibt er deshalb se<strong>in</strong>er deutschen Leserschaft <strong>in</strong>s Stammbuch: "Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch<br />

die Achseln zucken über die Zustände der englischen Industrie- und Ackerbauarbeiter oder sich optimistisch dabei<br />

beruhigen, daß <strong>in</strong> Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehn, so muß ich ihm zurufen: De te<br />

fabula narratur! (=Von dir erzählt die Geschichte!)" (MEW 23, S.12)<br />

74 Wir wollen ke<strong>in</strong> Wörterbuch schreiben. Aber hier wäre e<strong>in</strong>e Anmerkung zum Begriff "Ideologie" angebracht.<br />

Im herrschenden Sprachgebrauch ist es e<strong>in</strong>e abwertende Bezeichnung für Theorien und Ansichten, denen man<br />

nicht trauen kann. "Ideologe" wird demnach gleichbedeutend mit "geistiger Verführer" gebraucht. Witzelnd<br />

könnte man sagen: <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Ideologie als Ideologie zu beschimpfen ist e<strong>in</strong>e ganz gängige Ideologie.<br />

<strong>Marx</strong>isten bezeichnen als Ideologien die aus den Lebensbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er Gesellschaft heraus entstehenden<br />

Auffassungen über Gesellschaft und Natur; <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne wurde <strong>in</strong> der UdSSR und DDR <strong>von</strong> "offiziellen" <strong>Marx</strong>isten<br />

der <strong>Marx</strong>ismus als wissenschaftliche Ideologie der Arbeiterklasse bezeichnet. Richtig ist daran, dass Ideologien<br />

<strong>von</strong> sozialen Klassen und Gruppen vervorgebracht werden und deren Interessen auf mehr oder weniger<br />

geschlossene Weise ausdrücken. Klar, dass Ideologien, die auf die Überw<strong>in</strong>dung der kapitalistischen Produktionsweise<br />

abzielen, nur <strong>von</strong> Klassen und Gruppen hervorgebracht werden können, die ke<strong>in</strong>e existentiellen B<strong>in</strong>dungen<br />

an dieses System haben.<br />

Daher gibt es im gesellschaftlichen S<strong>in</strong>ne, wenn es um Denken und Erkennen geht, überhaupt nur Ideologien.<br />

Denn was auch immer gedacht oder geglaubt, veröffentlicht oder gesendet wird, ist ebensosehr gesellschaftliches<br />

Produkt wie es <strong>in</strong>dividuelle Vorstellung ist. Auch die Wissenschaften bilden da ke<strong>in</strong>e Ausnahme, obwohl sie<br />

durch Entwicklung entsprechender Regeln dafür sorgen, den wissenschaftlichen Erkenntnisweg so weit als möglich<br />

<strong>von</strong> der E<strong>in</strong>flussnahem durch äußere Interessen unabhängig zu machen.<br />

Es wäre also nicht zwischen "Ideologien" und "richtigen Auffassungen" zu unterscheiden, sondern zwischen<br />

Ideologien, die den wirklichen Verhältnissen mehr oder weniger entsprechen, und solchen, die das nicht tun oder<br />

sogar neben jeder Spur liegen.<br />

75 Hier geht es nicht darum, die D<strong>in</strong>ge für unveränderbar zu halten. Im Gegenteil, was bestimmte Veränderungen<br />

betrifft, lassen sich Kapitalisten so schnell nicht übertreffen. Aber es s<strong>in</strong>d Veränderungen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es festen<br />

Konzepts, das heute mit den Begriffen Markt, Privateigentum und unternehmerische Freiheit umrissen wird und<br />

<strong>von</strong> dem man behauptet, es entspräche direkt der menschlichen Natur. Es s<strong>in</strong>d Technik und Formen, Marken und<br />

Moden die sich rasant verändern. Im Schutz dieser Veränderungen konservieren sich die Produktionsverhältnisse,<br />

die für unveränderbar erklärt werden.<br />

Edmund Burke, e<strong>in</strong> sehr populärer Zeitgenosse <strong>von</strong> Adam Smith, bezeichnete vor über 200 Jahren ratzfatz "die<br />

Gesetze des Handels" als "die Gesetze der Natur und folglich die Gesetze Gottes." ("the laws of commerce,<br />

which are the laws of nature, and consequently the laws of God"; Edmund Burke, Thoughts and Details on<br />

Scarcity; 1795) Bei Smith selbst f<strong>in</strong>den wir Sätze dieser Art: "Die Arbeitsteilung, die so viele Vorteile mit sich<br />

br<strong>in</strong>gt, ist <strong>in</strong> ihrem Ursprung nicht etwa das Ergebnis menschlicher Erkenntnis, welche den allgeme<strong>in</strong>en Wohlstand,<br />

zu dem erstere führt, voraussieht und anstrebt. Sie entsteht vielmehr zwangsläufig, wenn auch langsam<br />

und schrittweise, aus e<strong>in</strong>er natürlichen Neigung des Menschen, zu handeln und D<strong>in</strong>ge gegene<strong>in</strong>ander auszutauschen…<br />

Jene Eigenschaft ist allen Menschen geme<strong>in</strong>sam…" (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen; 1776)<br />

So wird der Warenaustausch nicht zu e<strong>in</strong>er Folge der sozial sich verfestigenden Arbeitsteilung, wie es dem historischen<br />

Gang entspricht. Der Tausch der Waren selbst wird als "menschliche Grundeigenschaft" gesehen, die offenbar<br />

die Arbeitsteilung (wenn auch langsam) <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiv hervorbr<strong>in</strong>gt, um der Leidenschaft des Handelns frönen<br />

zu können. Als "natürliche Neigung" wird auch beim großen Adam Smith die Warenproduktion und der Handel<br />

zu e<strong>in</strong>em Naturgesetz und damit zu e<strong>in</strong>em <strong>Teil</strong> der ewigen göttlichen Ordnung.<br />

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