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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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361 Im Gleichnis vom reichen und armen Mann heißt es im Lukas-Evangelium <strong>in</strong> der modernen E<strong>in</strong>heitsübersetzung<br />

(Lk 16,20): "Es war e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> reicher Mann, der sich <strong>in</strong> Purpur und fe<strong>in</strong>es Le<strong>in</strong>en kleidete und Tag für Tag<br />

herrlich und <strong>in</strong> Freuden lebte. Vor der Tür des Reichen aber lag e<strong>in</strong> armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller<br />

Geschwüre war. Er hätte gern se<strong>in</strong>en Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen<br />

kamen die Hunde und leckten an se<strong>in</strong>en Geschwüren." Auf diesen Lazarus des Neuen Testaments dürfte<br />

sich die Bezeichnung "Lazarusschichte der Arbeiterklasse" bei M. beziehen.<br />

362 Daran ist M. nicht unschuldig. Er kokettiert damit, se<strong>in</strong>e historischen Ausflüge als Illustrationen oder bloß<br />

h<strong>in</strong>geworfene Skizzen zu bezeichnen. <strong>Das</strong> ehrt ihn <strong>in</strong> gewisser Weise, denn Geschichtsschreibung etwa im S<strong>in</strong>ne<br />

e<strong>in</strong>er politischen Geschichte oder Wirtschaftsgeschichte ist es natürlich nicht. M. holt die historische Methode <strong>in</strong><br />

die Politische Ökonomie. Es ist Komprimierung des historischen Materials. Vieles daran ist zweifellos zufällig,<br />

manches sogar <strong>in</strong>tuitiv. Ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Wissenschaftler kann den gesamten historischen Stoff auch nur weniger<br />

Jahre beherrschen.<br />

Aber: Es ist Geschichte <strong>in</strong>mitten e<strong>in</strong>er Umbruchgesellschaft, <strong>in</strong> der sich Prozesse entwickelten, die spürbar waren<br />

und die England zum gesellschaftlichen Laboratorium, zu e<strong>in</strong>em Experiment <strong>von</strong> welthistorischer Bedeutung<br />

machten, dessen Resultate nach und nach auf alle anderen Länder übergriffen. In diesem S<strong>in</strong>ne ist die englische<br />

Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts genau wie der Analyst zu e<strong>in</strong>em Klassiker geworden. Und wer immer<br />

Kritik an M. übt, muß die Hervorbr<strong>in</strong>gung se<strong>in</strong>er Theorie als Kritik vorhandener Theorien ebenso beachten wie<br />

ihre Verwurzelung <strong>in</strong> der historischen Analyse.<br />

Was immer auch M. selbst an koketten Bemerkungen zu se<strong>in</strong>en Texten f<strong>in</strong>det: Als Spurenfolger nehmen wir gerade<br />

auch die historischen "Ausflüge" ernst. Politische Ökonomie ohne konkrete Analyse der historischen Umstände<br />

ist ebenso luftig wie politische Geschichtsschreibung, die nicht <strong>in</strong> den ökonomischen Strukturen der Gesellschaft<br />

wurzelt.<br />

363 MEW 23, S.677f. Mit dem Vergleich vom Fortunatussäckel bezieht M. sich auf e<strong>in</strong> altes deutsches Volksbuch,<br />

heute wenig bekannt, das 1509 erstmals <strong>in</strong> Augsburg als Druck veröffentlicht wurde. Dar<strong>in</strong> erhält die Hauptfigur<br />

Fortunatus auf Zypern <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er Fee e<strong>in</strong>en Sack, der stets Geld enthält, so oft man h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>greift; passenderweise<br />

<strong>in</strong> der jeweiligen Währung des Landes, <strong>in</strong> dem man sich bef<strong>in</strong>det. Ebenso unermüdlich sprudelnd wie Fortunatus<br />

Geldsack ersche<strong>in</strong>en M. die Mehrwertquellen <strong>in</strong> England zu Zeiten une<strong>in</strong>geschränkter Konkurrenz.<br />

Mit den abgeschnittenen "letzten Schlupfw<strong>in</strong>kel" der Vulgärökonomie ist folgendes geme<strong>in</strong>t: In den Jahren 1846<br />

bis 1867 kennt <strong>in</strong> England die kapitalistische Konkurrenz praktische ke<strong>in</strong>e Regulierung. Deshalb lassen sich die<br />

Folgen der ungehemmten Konkurrenz und Akkumulation sogar an der Oberfläche, dem angestammten Revier der<br />

Vulgärökonomie, alle<strong>in</strong> durch schlichtes Studium <strong>von</strong> Parlamentsberichten, Zeitungen und offiziellen Sozialstatistiken<br />

beobachten. Und weil das Freihandelsregime 1846 (wie auch bei den Neoliberalen 130 Jahre später) mit<br />

dem Versprechen allgeme<strong>in</strong>en Wohlstands durchgesetzt wurde, bleibt angesichts der wirklichen Entwicklungen<br />

eigentlich auch ke<strong>in</strong> Raum für Ausreden – wenn man nicht gerade Freihandelsdogmatiker oder neoliberaler<br />

Triebtäter ist.<br />

M.s Illustrationen zum Gesetz der Akkumulation umfassen sechs Kapitel: Im Kapitel "England <strong>von</strong> 1846-1866"<br />

(S.677ff) beschreibt M. den Fortgang der Akkumulation, das Bevölkerungswachstum, das rasche Anwachsen der<br />

Privatvermögen, das relative Zurückbleiben der Löhne wegen fortschreitender Inflation und die Ausweitung des<br />

Pauperismus, wie er sich <strong>in</strong> den offiziellen Almosenstatistiken niederschlägt. Im Kapitel "Die schlechtbezahlten<br />

Schichten der britischen <strong>in</strong>dustriellen Arbeiterklasse" (S.684ff) geht es um die Lebenssituation dieser Gruppe. <strong>Das</strong><br />

umfaßt ihren Ernährungsstatus, ihre Wohnsituation und damit verbundende Erkrankungen und die Entwicklung<br />

der Mieten. Im Kapitel "<strong>Das</strong> Wandervolk" (S.693ff) wird die Lebenslage der Arbeiter untersucht, die als Wanderarbeiter<br />

der Arbeitsnachfrage folgen, deren improvisierten Wohnverhältnisse immer wieder zum Ausbruch und<br />

zur schnellen Verbreitung <strong>von</strong> Krankheiten führen. Im Kapitel "Wirkung der Krisen auf den bestbezahlten <strong>Teil</strong> der<br />

Arbeiterklasse" (S.697ff) zeigt M., dass auch zeitweilig höherer Lohn nicht vor dem Absturz <strong>in</strong>s Elend schützt,<br />

sobald e<strong>in</strong>e Krise der galoppierenden Akkumulation e<strong>in</strong> vorläufiges Ende setzt. Die Metallschiffbauer, die M. zur<br />

gut bezahlten "Arbeiteraristokratie" rechnet, bezahlen die Folgen der Schiffsbauspekulation und der darauf 1866<br />

e<strong>in</strong>tretenden Krise, <strong>in</strong>dem sie alle vorher aufgebauten Reservefonds verlieren und am Ende der Krise wesentlich<br />

schlechter dastehen als vorher. Ausführlich beschreibt M. im Kapitel "<strong>Das</strong> britische Ackerbauproletariat" (S.701ff)<br />

die Situation dieser Bevölkerungsgruppe <strong>in</strong> den englischen Grafschaften und die Folgen der Kapitalisierung für<br />

Löhne, Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen, Länge der Arbeitswege und die Gesundheit. Im Kapitel "Irland" (S.726ff) wird die<br />

im Vergleich zu England zwar langsamere, aber <strong>in</strong> den Folgen um so verheerendere Akkumulation <strong>in</strong> der kapitali-<br />

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