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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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oder unbequem, ob polizeiwidrig oder nicht. An die Stelle uneigennütziger Forschung trat bezahlte Klopffechterei*,<br />

an die Stelle unbefangner wissenschaftlicher Untersuchung das böse Gewissen und die schlechte Absicht<br />

der Apologetik**." (MEW 23, S.21) Seitdem tut man <strong>in</strong> der Volkswrtschaftslehre so, als sei das, was wir kapitalistische<br />

Produktionsweise nennen, das natürlichste <strong>von</strong> der Welt, gleichsam dem menschlichen Wesen implantiert<br />

und daher, bei allem Wandel <strong>in</strong> der Form, im Kern doch ewig. Und weil das so ist, muß man sich auch nicht<br />

mit dem Ganzen, sondern nur mit den Details beschäftigen. Für jedes Detail e<strong>in</strong>en eigenen Lehrstuhl an irgende<strong>in</strong>er<br />

Hochschule.<br />

*Klopffechterei bezeichnet e<strong>in</strong>e früher übliche Form des Schaukampfs der Fechtschulen. Wurde dann zu e<strong>in</strong>em<br />

Schimpfwort für Leute, die mit großen Gesten und Luftwirbeln nur so taten, als ob sie fechten. Wir kennen das<br />

heute als Sche<strong>in</strong>debatten aus den Medien.<br />

**Apologetik steht hier abwertend für e<strong>in</strong>e Rechtfertigung, der es nur um die Verteidigung des Bestehenden,<br />

nicht um die Erkenntnis geht.<br />

41 Damit das klar ist: Wir haben nichts gegen Mathematik. Die wunderbare Hardware und Software, mit der wir<br />

dieses Buch erstellt haben, wäre ohne Mathematik schlicht unmöglich. Aber <strong>in</strong> den Gesellschaftswissenschaften,<br />

zu denen auch die Ökonomie gehört, ist sie das, was Engels <strong>von</strong> der Statistik sagt: E<strong>in</strong> "notwendiges<br />

Hülfsmittel". Wer aber glaubt, im mathematischen Modell etwas über die Wirklichkeit zu erfahren, verspottet<br />

sich selbst. Da kommt nur raus, was man vorher re<strong>in</strong> getan hat. Mathematische Modelle können ausgesprochen<br />

anregend se<strong>in</strong> und zu neuen Fragestellen führen, wenn sie durch e<strong>in</strong>e anregende Theorie begründet s<strong>in</strong>d. Wer<br />

das vergißt (weil es bequem ist und unangenehme Fragen ausblendet), reklamiert für sich nur das alte Bonmot,<br />

demzufolge die fortschreitende Mathematisierung den großen Vorteil habe, sich viel exakter irren zu können.<br />

Und am Ende erkennt man den Irrtum nicht e<strong>in</strong>mal, weil man durch "mathematische Genauigkeit" geblendet<br />

wird.<br />

<strong>E<strong>in</strong>e</strong> wirkliche Sternschnuppenstunde hatte diese Art mathematischer Modellierung <strong>in</strong> der gegenwärtigen Wirtschaftskrise.<br />

Dort hatte man <strong>in</strong> allen Banken und Versicherungen zur Absicherung der Risiken mathematischstatistisch<br />

fundierte Modelle implementiert. Dazu e<strong>in</strong> Vorstandsmitglied der Allianz SE: "Dadurch hat sich jedoch<br />

der Irrglaube verbreitet, dass Risiken nicht mehr vorhanden seien, sobald diese mathematisch modelliert s<strong>in</strong>d."<br />

Natürlich ist das unerschütterliche Vertrauen der F<strong>in</strong>anzmarktakteure <strong>in</strong> statistische und mathematische Modelle<br />

nicht die Ursache der Krise; aber die Naivität hat zur Reibungslosigkeit des Übergangs <strong>in</strong> die Krise und zu ihrer<br />

schlagartigen Verschärfung genauso beigetragen, wie die fast vollständige Computerisierung des Börsen- und<br />

Devisenhandels. Und natürlich ist das bl<strong>in</strong>de Vertrauen <strong>in</strong> solche Modelle e<strong>in</strong> Symptom für die tiefgreifende Verständnislosigkeit,<br />

mit der die Akteure am F<strong>in</strong>anzmarkt ihren eigenen alltäglichen Handlungen gegenüberstehen.<br />

Wir greifen diesen Aspekt im Kapitel zum Warenfetischismus wieder auf.<br />

42 Allerd<strong>in</strong>gs sollte man M.s praktische Kenntnisse des Wirtschaftslebens und se<strong>in</strong> Interesse daran nicht unterschätzen.<br />

Wenn auch immer wieder die Geschichte se<strong>in</strong>er verunglückten Börsenspekulation kolportiert wird: Für<br />

se<strong>in</strong>e langjährige Tätigkeit als Wirtschaftskorrespondent der New York Tribune hat er sich beachtliche Detailkenntnisse<br />

angeeignet. Er selbst sagt: "Indes bildeten Artikel über auffallende ökonomische Ereignisse <strong>in</strong> England<br />

und auf dem Kont<strong>in</strong>ent e<strong>in</strong>en so bedeutenden <strong>Teil</strong> me<strong>in</strong>er Beiträge, daß ich genötigt ward, mich mit praktischen<br />

Details vertraut zu machen, die außerhalb des Bereichs der eigentlichen Wissenschaft der politischen Ökonomie<br />

liegen." (MEW 13, S.11) Wer <strong>von</strong> M. Anlageberatung erwartet, wird enttäuscht. Nicht wegen M.s Pleiten<br />

<strong>in</strong> persönlichen Geldd<strong>in</strong>gen, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen gilt: Wer Kapitalist ist, braucht das "Kapital"<br />

nicht zu lesen. Wer ke<strong>in</strong> Kapitalist ist, wird auch durch <strong>in</strong>tensive Lektüre des Werks ke<strong>in</strong>er werden. Trost: Wir<br />

wissen am Ende wenigstens, warum wir ke<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d. Und vielleicht auch, warum wir ke<strong>in</strong>e se<strong>in</strong> wollen.<br />

43 "Um es e<strong>in</strong> für allemal zu bemerken, verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie alle Ökonomie seit<br />

W. Petty, die den <strong>in</strong>nern Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht im Gegensatz zur<br />

Vulgärökonomie, die sich nur <strong>in</strong>nerhalb des sche<strong>in</strong>baren Zusammenhangs herumtreibt, für e<strong>in</strong>e plausible<br />

Verständlichmachung der sozusagen gröbsten Phänomene und den bürgerlichen Hausbedarf das <strong>von</strong> der wissenschaftlichen<br />

Ökonomie längst gelieferte Material stets <strong>von</strong> neuem wiederkaut, im übrigen aber sich darauf beschränkt,<br />

die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsagenten <strong>von</strong> ihrer eignen<br />

besten Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren." (MEW 23, S.95)<br />

44 M. spricht immer wieder <strong>von</strong> "Verhältnissen". Dabei geht es um die Beziehungen zwischen Menschen, genauer:<br />

zwischen Menschengruppen! Diese Beziehungen werden oft durch D<strong>in</strong>ge vermittelt, wobei die "D<strong>in</strong>ge"<br />

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