09.01.2013 Aufrufe

Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

te<strong>in</strong>ischen vulgaris gleich gewöhnlich, alltäglich). Daher bezeichnet M. Leute wie Malthus hartnäckig und unhöflich<br />

als Vulgärökonomen.<br />

53 Nehmen wir die Europäische Union: In den Jubiläumsreden ist stets vom "Sieg der europäischen Idee", <strong>von</strong><br />

der "Idee der europäischen E<strong>in</strong>heit" usw. die Rede. Tatsächlich ist die EU Ergebnis e<strong>in</strong>es Prozesses, <strong>in</strong> dem größer<br />

werdende Wirtschaftsunternehmen nach größeren B<strong>in</strong>nenmärkten verlangten. Die "Europäische Idee" erweist<br />

sich nur als Vehikel dieser ökonomischen Interessen. Ohne solche durchsetzungsfähigen Interessen bleiben<br />

alle Ideen, ob dumm oder gutgeme<strong>in</strong>t oder geradezu brilliant, lediglich Füllstoff für den Krabbeltisch.<br />

54 "<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Untersuchung über Natur und Ursachen des Reichtums der Nationen" (An Inquiry <strong>in</strong>to the Nature and<br />

Causes of the Wealth of Nations) ist auch der Titel des berühmten Werks <strong>von</strong> Adam Smith, das 1776 erstmals<br />

erschien und <strong>in</strong> Deutschland meist unter dem Titel "Der Wohlstand der Nationen" veröffentlicht wurde. Dabei<br />

hat Smith nur die bescheidenen Anfänge des Wachstums <strong>in</strong> der Manufakturperiode erlebt. Bereits 1825, 50 Jahre<br />

nach Ersche<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>es Werks, ist die gewerbliche Produktion mit dem Übergang zur Fabrik um das Vierfache gestiegen.<br />

Aber das eigentlich rasante Wachstum des Reichtums wie auch der Diskrepanz zwischen arm und reich<br />

erleben wir <strong>in</strong> den letzten fünf Jahrzehnten. Dabei wird freilich auch deutlich, dass der wachsende "Reichtum der<br />

Nationen" nur die Kulisse für den wachsenden Abstand zwischen arm und reich ist. Im historischen Vergleich<br />

zwischen dem E<strong>in</strong>kommens des ärmsten Fünftel und dem reichsten Fünftel der Weltbevölkerung wird das Verhältnis<br />

für 1820 auf 3:1, für 1960 schon auf 30:1 und für 1994 auf 78:1 geschätzt. <strong>Das</strong> läßt sich auch anders<br />

ausdrücken: Die 447 reichsten Personen der Welt hatten zu Beg<strong>in</strong>n der 1990er Jahre e<strong>in</strong> Nettovermögen, das<br />

dem jährlichen E<strong>in</strong>kommen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung entsprach (UNDP, 1997, S.111). Tendenz<br />

steigend.<br />

55 Wikipedia dazu: "Der Begriff Soziale Frage entstand ab etwa 1830 und umschreibt zunächst die mit dem Bevölkerungs-<br />

und Städtewachstum entstehende Verelendung." Als wollte der gewiß gut geme<strong>in</strong>te Wikipedia-<br />

Beitrag den Trick, der h<strong>in</strong>ter der "Sozialen Frage" steckt, noch e<strong>in</strong>mal anwenden, verdreht auch er Ursache und<br />

Wirkung. Da ist zum Besipiel <strong>von</strong> der "massenhaften Abwanderung vom Lande <strong>in</strong> die städtischen Industriezentren"<br />

als "Begleitersche<strong>in</strong>ungen der Großstadtbildung" die Rede. Nun s<strong>in</strong>d aber die Massen vom Lande nicht <strong>in</strong><br />

die Großstädte gezogen, um diese zu bilden. Sie wurden massenhaft vertrieben und hatten ke<strong>in</strong>e Wahl. <strong>Das</strong><br />

Elend schafft sich nicht selbst, auch wenn alle bürgerlichen Schönredner uns immer wieder genau das weis zu<br />

machen versuchen. Dieselben Prozesse, die für die Vertreibung der Landbevölkerung verantwortlich waren,<br />

brachten auch die Industrien hervor, deren wachsender Reichtum vom ständigen Zustrom der Arbeitskräfte abh<strong>in</strong>g.<br />

Dadurch wurden die Städte zu Industriestädten und zur Elendsheimat. Man sieht: Sogar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wikipedia-Artikel<br />

vom Mai 2008 f<strong>in</strong>den wir wohlme<strong>in</strong>ende Kulissenschieberei an Stelle präziser Fragen nach den Ursachen<br />

der Armut. Man muß ja nicht gleich <strong>Karl</strong> <strong>Marx</strong> zitieren. Man könnte sich an e<strong>in</strong>en Satz <strong>von</strong> Groucho <strong>Marx</strong><br />

er<strong>in</strong>nern: "<strong>Das</strong> Gegenteil <strong>von</strong> gut ist nicht schlecht sondern gut geme<strong>in</strong>t" und es dann etwas besser machen.<br />

56 <strong>E<strong>in</strong>e</strong> der drolligsten Krisentheorien entwickelte William Stanley Je<strong>von</strong>s (1835-1882) <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Hauptwerk "The<br />

Theory of Political Economy" <strong>von</strong> 187<strong>1.</strong> Er führt dar<strong>in</strong> die ökonomischen Krisen auf die Intensität der Sonnenflecken<br />

zurück, die für gute oder schlechte Ernten sorgen und daher über die wechselnden Preise für organische<br />

Rohstoffe die Krisen auslösen. <strong>Das</strong> passte zwar zu Modethemen der Zeit, hatte aber gar ke<strong>in</strong>e empirische Grundlage.<br />

<strong>Das</strong> ganze wäre wie so vieles andere auch lediglich e<strong>in</strong>e Anekdote der Ideengeschichte. Doch gilt Je<strong>von</strong>s<br />

immerh<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>er der Stammväter der sogenannten Neoklassik, die uns <strong>in</strong> der Spielart des Neoliberalismus seit<br />

Jahren bedrückt. Deshalb hat man se<strong>in</strong>e pe<strong>in</strong>liche "Krisentheorie" unauffällig entsorgt. Beim neoliberalen Liberty<br />

Fund bietet man Je<strong>von</strong>s' Werk jedenfalls e<strong>in</strong>er ahnungslosen Leserschaft nur <strong>in</strong> bere<strong>in</strong>igter Fassung ohne jede<br />

Sun-Spot-Theorie.<br />

Je<strong>von</strong>s steht nicht alle<strong>in</strong>, was kuriose Krisentheorien angeht. Der Ökonom Henry L. Moore ("Generat<strong>in</strong>g<br />

Economic Cycles", 1923) machte den Stand der Venus zu Erde und Sonne für den Krisenzyklus verantwortlich<br />

und brachte dafür bee<strong>in</strong>druckende mathematische "Beweise". Freilich, noch kurioser als die kuriosen Theorien<br />

s<strong>in</strong>d jene, für die es <strong>in</strong>nere Krisen im Kapitalismus e<strong>in</strong>fach nicht gibt, bestenfalls solche, die durch "Fehler der Politik"<br />

oder durch "habgierige Banker" oder durch Hausbau-besessene Amerikaner oder andere "exogene Faktoren"<br />

hervorgebracht werden.<br />

57 London wächst zwischen 1800 und 1835 durch Zuwanderung um das doppelte auf 2 Millionen E<strong>in</strong>wohner,<br />

die meisten <strong>von</strong> ihnen ehemalige Landarbeiter und Kle<strong>in</strong>bauern. Noch e<strong>in</strong>mal hören wir He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

englischen Reisebildern <strong>von</strong> 1828: "Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt dem staunenden Geiste<br />

zeigen kann, ich habe es gesehen und staune noch immer – noch immer starrt <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Gedächtnisse dieser<br />

256

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!