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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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werden, auch wenn die ursprüngliche Kalkulation bloß noch Makulatur ist. Er hofft, dass es der<br />

Konkurrenz ähnlich geht, und er versucht natürlich, die gestiegenen Preise an die Gullydeckel-<br />

Käufer weiterzureichen. Doch <strong>in</strong> dem Punkt wird ihm bald klar, dass die gestiegenen Preise die<br />

Nachfrage s<strong>in</strong>ken lassen, nicht so sehr wegen der gestiegenen Preise, sondern weil sich <strong>in</strong>sgesamt<br />

der Bau der Kanalisation nicht mehr im erwarteten Tempo vollziehen läßt. So wird die Auslastung<br />

der Gully-Kapazitäten immer schwieriger.<br />

Wir wollen unser Gullydeckel-Beispiel nicht überstrapazieren. Es soll nur zeigen, dass Investitionen<br />

nicht immer nach vorn br<strong>in</strong>gen. Im Beispiel reibt sich unser Fabrikant schon die Hände. Re<strong>in</strong><br />

rechnerisch kann er die Konkurrenz erledigen. Aber da er <strong>Teil</strong> e<strong>in</strong>er vernetzten, ihm selbst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Zusammenhängen unbekannten vergesellschafteten Produktion ist, hat er es mit nicht<br />

vorhersehbaren Wirkungen zu tun. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Vielzahl solcher Störungen ist möglich. In unserm Beispiel<br />

s<strong>in</strong>d es die gestiegenen Preise für die Zulieferungen und die auftretenden Lieferengpässe,<br />

die se<strong>in</strong>e Pläne scheitern lassen. Der geplante Aufstieg unseres Gullydeckel-Fabrikanten zum<br />

Herrscher auf dem Gullydeckelmarkt muß zum<strong>in</strong>dest verschoben werden.<br />

Aber wir können unserem Beispiel auch e<strong>in</strong>e ironisch-tragische Wendung geben. Denn verglichen<br />

mit unserem Fabrikanten, der mit den Folgen se<strong>in</strong>er Groß<strong>in</strong>vestition belastet ist, steht se<strong>in</strong>e<br />

technisch (noch) rückschrittliche Konkurrenz <strong>in</strong> dieser Situation sogar besser da als der Möchtegern<br />

Gully-K<strong>in</strong>g. Ihre Anlagen s<strong>in</strong>d alt, aber dafür schon vollständig bezahlt. Der Druck hoher<br />

Kreditz<strong>in</strong>sen fehlt und das erlaubt flexibles Handeln. Vielleicht gel<strong>in</strong>gt es der rückständigen Konkurrenz<br />

sogar, dem Absatz unseres Durchstarters, dessen Spielraum so eng geworden ist, durch<br />

kurzfristige Dump<strong>in</strong>gpreise e<strong>in</strong>en Schlag zu versetzen und ihn damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Liquiditätskrise und<br />

letztlich <strong>in</strong> die Insolvenz zu manövrieren. That's (capitalistic) life!<br />

Es wäre nicht das erste Mal <strong>in</strong> der Wirtschaftsgeschichte, dass es e<strong>in</strong>en Pionier mitten im Angriff<br />

kalt erwischt, weil am ganz anderen Ende des Systems etwas Unvorhergesehenes passiert und<br />

die rückständige Konkurrenz sich den technischen Fortschritt e<strong>in</strong>es abgestürzten Überfliegers<br />

preiswert e<strong>in</strong>verleibt. 453<br />

Der anekdotische Ausflug sollte uns die vernetzten Produktions- und Verwertungsprozesse veranschaulichen.<br />

<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Änderung an beliebiger Stelle führt zu Änderungen an anderen Stellen, deren<br />

Zusammenhang ke<strong>in</strong>eswegs offensichtlich se<strong>in</strong> muß. Wir könnten das Beispiel anders gestalten:<br />

Gesetzt, mehrere Gullydeckel-Unternehmer haben zur gleichen Zeit im großen Stil per Kredit <strong>in</strong>vestiert<br />

und werden jetzt gleichermaßen durch die Unmöglichkeit getroffen, diese Kapazitäten<br />

auszulasten, sei es wegen fehlender Zulieferungen oder wegen der entstandenen Überproduktion.<br />

Die Kredite platzen, die Unternehmen stellen ihre Tätigkeit e<strong>in</strong>. Mitarbeiter werden entlassen<br />

und die Zulieferer der Pleitegänger bleiben auf ihren Waren sitzen, schränken ebenfalls die Produktion<br />

e<strong>in</strong> und entlassen Mitarbeiter. Die Kreditgeber verlieren ihr Geld; sie schränken die Kreditvergabe<br />

e<strong>in</strong> oder verschärfen die Bed<strong>in</strong>gungen. So kommt e<strong>in</strong>es zum anderen und wir nennen<br />

das Ergebnis e<strong>in</strong>e Krise. Die Krise <strong>in</strong> der Automobil<strong>in</strong>dustrie 2008/2009 ist e<strong>in</strong> schönes Beispiel<br />

dafür, wenn auch die wirklichen Zusammenhänge dort, verglichen mit unserem Beispiel,<br />

noch sehr viel vernetzter s<strong>in</strong>d.<br />

<strong>Das</strong> hohe Maß der Arbeitsteilung und Vernetzung, die tatsächlichen Abhängigkeiten der e<strong>in</strong>zelnen<br />

Kapitale <strong>in</strong> Produktion und Verwertung <strong>von</strong>e<strong>in</strong>ander, kurz: Die hohe Vergesellschaftung<br />

oder der gesellschaftliche Charakter der kapitalistischen Produktion tritt besonders dann <strong>in</strong>s<br />

Licht, wenn sche<strong>in</strong>bar kle<strong>in</strong>e Störungen sich zu wirklichen Krisen auswachsen und sich die Akteure<br />

verwundert die Augen reiben.<br />

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