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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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137 "Es bedarf vollständig entwickelter Warenproduktion, bevor aus der Erfahrung selbst die wissenschaftliche<br />

E<strong>in</strong>sicht herauswächst, daß die unabhängig <strong>von</strong>e<strong>in</strong>ander betriebenen, aber als naturwüchsige Glieder der gesellschaftlichen<br />

<strong>Teil</strong>ung der Arbeit allseitig <strong>von</strong>e<strong>in</strong>ander abhängigen Privatarbeiten fortwährend auf ihr gesellschaftlich<br />

proportionelles Maß reduziert werden, weil sich <strong>in</strong> den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen<br />

ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz<br />

gewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn e<strong>in</strong>em das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt."<br />

(MEW 23, S.89)<br />

138 M. sagt über se<strong>in</strong>e Vorgänger: "Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen, Wert und<br />

Wertgröße analysiert und den <strong>in</strong> diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage<br />

gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit<br />

durch ihre Zeitdauer <strong>in</strong> der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt? Formeln, denen es auf der Stirn geschrieben<br />

steht, daß sie e<strong>in</strong>er Gesellschaftsformation angehören, wor<strong>in</strong> der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch<br />

noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert, gelten ihrem bürgerlichen Bewußtse<strong>in</strong> für ebenso selbstverständliche<br />

Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst." (MEW 23, S.94ff)<br />

Was an se<strong>in</strong>en Vorgängern "historisch" sei, glossiert M. durch e<strong>in</strong> Zitat aus se<strong>in</strong>er älteren Arbeit '<strong>Das</strong> Elend der<br />

Philosophie'. Dort hatte er notiert: "Die Ökonomen verfahren auf e<strong>in</strong>e sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei<br />

Arten <strong>von</strong> Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus s<strong>in</strong>d künstliche Institutionen,<br />

die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen dar<strong>in</strong> den Theologen, die auch zwei Arten <strong>von</strong> Religionen unterscheiden.<br />

Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist e<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung der Menschen, während ihre eigene Religion e<strong>in</strong>e<br />

Offenbarung Gottes ist." (Fußnote <strong>in</strong> MEW 23, S.96; Orig<strong>in</strong>alzitat <strong>in</strong> MEW 4, S.139)<br />

139 Die Abhängigkeit jeder Art <strong>von</strong> Erkenntnis <strong>von</strong> den Interessen ist nicht M.s Entdeckung. Vom Dubl<strong>in</strong>er Erzbischof<br />

Richard Whateley (1787-1863), e<strong>in</strong>em der Begründer der subjektiven Werttheorie, wird die Feststellung<br />

überliefert: "Selbst die Theoreme des Euklid würden angefochten werden, wenn e<strong>in</strong>mal f<strong>in</strong>anzielle und politische<br />

Interessen mit ihnen <strong>in</strong> Widerstreit geraten." Wohl wahr. Leider hat sich Bischof Whately, als er se<strong>in</strong>e subjektive<br />

Werttheorie mit dem Satz illustrierte: "Perlen erzielen nicht deshalb e<strong>in</strong>en hohen Preis, weil Männer danach getaucht<br />

s<strong>in</strong>d; ganz im Gegenteil, Männer tauchen danach, weil sie e<strong>in</strong>en hohen Preis erzielen" dieser Erkenntnis<br />

nicht er<strong>in</strong>nert. Nun ist die Perle nicht gerade e<strong>in</strong> typischer Massenartikel des kapitalistischen Warenmarktes und<br />

gewiss ebenso unzuverlässig zur Begründung irgende<strong>in</strong>er Werttheorie wie der Handel mit Picasso-Gemälden. Der<br />

Bischof hätte sich fragen sollen, warum ihm ausgerechnet kostbare Perlen <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n kamen und nicht Brot oder<br />

Mehl oder Unterhosen. Es könnte mit se<strong>in</strong>er Lebensweise zu tun haben.*) Im übrigen klärt auch der kernige Satz<br />

des Bischofs noch nicht, woher der hohe Preis der Perlen kommt. Vielleicht nimmt M. darauf Bezug, wenn er<br />

schreibt: "Bisher hat noch ke<strong>in</strong> Chemiker Tauschwert <strong>in</strong> Perle oder Diamant entdeckt." <strong>Das</strong> geht gegen alle Ökonomen,<br />

die den D<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>en Wert <strong>von</strong> Natur aus zuschreiben (MEW 23, S.98) Im Unterschied zu apodiktischen<br />

Bischöfen und schnellschüssigen Ökonomen des "gesunden Menschenverstands" ist es immer wieder erfrischend,<br />

wie M. mit dem Fetisch-Kapitel den Zusammenhang <strong>von</strong> Interesse und Erkenntnis bewußt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Argumentation<br />

<strong>in</strong>tegriert.<br />

*) M. hat die E<strong>in</strong>sicht des Kirchenmannes vom Standpunkt des leidgeprüften PolitÖkonomen kommentiert: "Auf<br />

dem Gebiete der politischen Ökonomie begegnet die freie wissenschaftliche Forschung nicht nur demselben<br />

Fe<strong>in</strong>de wie auf allen anderen Gebieten. Die eigentümliche Natur des Stoffes, den sie behandelt, ruft wider sie die<br />

heftigsten, kle<strong>in</strong>lichsten und gehässigsten Leidenschaften der menschlichen Brust, die Furien des Privat<strong>in</strong>teresses,<br />

auf den Kampfplatz. Die englische Hochkirche z.B. verzeiht eher den Angriff auf 38 <strong>von</strong> ihren 39 Glaubensartikeln<br />

als auf 1/39 ihres Gelde<strong>in</strong>kommens." (MEW 23, S.16)<br />

140 Kurioserweise wird <strong>von</strong> bürgerlicher Seite, aber auch <strong>von</strong> jüngeren Ökonomen der kritischen, anti neoliberalen<br />

Richtung, M. immer wieder der Vorwurf gemacht, er gehe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ökonomie <strong>von</strong> "objektiven Naturgesetzen"<br />

aus. Aber warum sollte ausgerechnet M., der klassische Gesellschaftstheoretiker, dergleichen tun? Wenn er<br />

<strong>von</strong> objektiven Gesetzen spricht, heißt das nur, dass diese Gesetze unabhängig vom Bewußtse<strong>in</strong> der Menschen<br />

und ihren vorgestellten Absichten wirken, aber eben durch ihr Handeln verwirklicht werden. Tatsächlich verwendet<br />

M., als K<strong>in</strong>d des 19. Jahrhunderts, an vielen Stellen den H<strong>in</strong>weis auf Naturgesetze, meist jedoch als ironische<br />

Analogie. Die Grundlage dafür hat er im Fetisch-Kapitel gelegt: Die ökonomischen Gesetze, so heißt es bei ihm,<br />

ersche<strong>in</strong>en als Naturgesetze, wirken wie Naturgesetze, nehmen die Gestalt e<strong>in</strong>es <strong>von</strong> den Produzenten unabhängigen<br />

Naturgesetzes an usw. Es ist eben nicht M., der die ökonomischen Gesetze für Naturgesetze hält. Es s<strong>in</strong>d<br />

die Akteure selbst, die Kapitalisten und ihre wissenschaftlichen Sachwalter, die sich so verhalten, als handele es<br />

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