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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital" von Karl Marx

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sierten Landwirtschaft beschrieben. Seit dem Hungerjahr 1846 wandern 30% der Bevölkerung aus. Der Verlust<br />

an Bevölkerung treibt die Akkumulationsrate durch großflächige Umstellung auf Vieh- und Schafwirtschaft an<br />

und läßt die E<strong>in</strong>kommen der Grundbesitzer rasant steigen. Für große <strong>Teil</strong>e des ländlichen Proletariats reduzieren<br />

sich die Verdienstmöglichkeiten zunehmend auf Saisonarbeit; für die <strong>in</strong> Dauerstellung gleichen die nom<strong>in</strong>ell gestiegenen<br />

Löhne nicht e<strong>in</strong>mal die Teuerungsrate bei landwirtschaftlichen Produkten aus. Abwanderungen <strong>in</strong> die<br />

Städte drücken dort auf die Löhne und schaffen ähnliche Wohnverhältnisse wie <strong>in</strong> den englischen Industriestädten.<br />

364 Man könnte auch sagen, dass M. unter anderen als den "klassischen" Bed<strong>in</strong>gungen vielleicht selbst nicht<br />

zum Klassiker geworden wäre. Denn zum Klassiker wird man nicht ernannt, das erarbeitet man sich mit viel Fleiß,<br />

e<strong>in</strong>er Portion Genie und, wie wir sehen, auch mit der Gnade der zeitlich passenden Geburt: Zur rechten Zeit am<br />

rechten Ort die richtigen Fragen stellen gehört dazu. Und dann natürlich noch die Antworten.<br />

365 Wir me<strong>in</strong>en hier mit Deregulierung die Schaffung <strong>von</strong> Verhältnissen, die ungeh<strong>in</strong>derten Warenaustausch und<br />

Kapitalverkehr weltweit erlauben. Die also alle gesellschaftlichen Ordnungen nach den Bedürfnissen ungeh<strong>in</strong>derter<br />

Verwertung umgestalten. <strong>Das</strong>s <strong>in</strong>nerhalb der Produktionsweise durchaus Regulierungen zunehmen, die etwa<br />

die Art und Weise des Kapitalverkehrs, rechtliche Ansprüche <strong>von</strong> Investoren bei grenzüberschreitenden Investitionen,<br />

vertragliche und zwischenstaatliche Absicherung des Warenverkehrs und ähnliches behandeln, hat mit der<br />

<strong>von</strong> uns geme<strong>in</strong>ten Deregulierung wenig bis gar nichts zu tun.<br />

366 <strong>Das</strong> ist wichtig zu beachten: M. geht es nicht um die Erklärung der "Armut an sich"; so etwas wäre für ihn<br />

e<strong>in</strong>e unfruchtbare, weil überhistorische Konstruktion. Es geht auch nicht um die Frage, ob es immer Armut gegeben<br />

hat oder immer wieder geben wird, ob Armut e<strong>in</strong>e menschliche Konstante ist usw. <strong>Das</strong> ist der Vorwurf, den<br />

M. im letzten Zwischentext se<strong>in</strong>en Vorgängern macht, wenn sie die unter kapitalistischen Bed<strong>in</strong>gungen produzierte<br />

Armut und "analoge, aber dennoch wesentlich verschiedene Ersche<strong>in</strong>ungen vorkapitalistischer Produktionsweisen<br />

damit zusammenwerfen." (MEW 23, S.675)<br />

Es geht um die Armut, die aus der kapitalistischen Produktionsweise als Bed<strong>in</strong>gung der Akkumulation und damit<br />

als Bed<strong>in</strong>gung des gesellschaftlichen Reichtums hervorwächst. Dabei soll nicht alles "dem Kapitalismus" <strong>in</strong> die<br />

Schuhe geschoben werden. Neben dem formationsspezifischen Elend gibt es menschliches Leid, das der Natur<br />

und dem Leben selbst, nicht der Produktionsweise entspr<strong>in</strong>gt: Körperliche und seelische Erkrankungen, Verlust<br />

<strong>von</strong> Angehörigen, Unfallfolgen und anderes. Die Unterscheidung ist wichtig: <strong>Das</strong> formationsspezifische Elend<br />

kann beseitigt, das dem Leben selbst entspr<strong>in</strong>gende Leid kann nur bewältigt werden.<br />

Freilich muß man aufpassen, dass man das e<strong>in</strong>e nicht mit dem anderen verwechselt. Viele Erkrankungen, die uns<br />

als Lebensschicksal ersche<strong>in</strong>en, s<strong>in</strong>d tatsächlich ihrer Entstehung, vor allem aber ihrer sozialen Verteilung nach<br />

eng mit der Produktionsweise und den <strong>von</strong> ihr produzierten und ungleich verteilten Belastungen und Gesundheitsrisiken<br />

verbunden. Und natürlich ist e<strong>in</strong>e schwere Erkrankung durch gute mediz<strong>in</strong>ische Versorgung allemal<br />

besser zu bewältigen als ohne.<br />

367 In Deutschland werden jedes Jahr nach wie vor beachtliche Mittel aufgewendet, um die strukturellen Ungleichheiten<br />

der Reichtumsverteilung abzuschwächen. Was aber durch solche Maßnahmen am unteren Ende erreicht<br />

wird, geht durch fortschreitende Akkumulation am oberen Ende wieder verloren. Tatsächlich schreitet <strong>in</strong><br />

den letzten 25 Jahren die strukturelle Produktion der Armut schneller voran als se<strong>in</strong>e "Modifizierung" durch soziale<br />

Transfers.<br />

368 MEW 23, S.674<br />

369 Als die SPD 1891 e<strong>in</strong>en Entwurf für ihr neues Parteiprogramm vorlegte, stand dar<strong>in</strong> auch dieser Satz: "Immer<br />

größer wird die Zahl und das Elend der Proletarier". Engels fand die Formulierung unpassend; er schrieb: "Dies<br />

ist nicht richtig, so absolut gesagt. Die Organisation der Arbeiter, ihr stets wachsender Widerstand wird dem<br />

Wachstum des Elends möglicherweise e<strong>in</strong>en gewissen Damm entgegensetzen. Was aber sicher wächst, ist die<br />

Unsicherheit der Existenz. <strong>Das</strong> würde ich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>setzen." (MEW 22, S.231) Die Unsicherheit der Existenz für alle<br />

Lohnabhängigen tritt auch heute immer mehr als zentrales Merkmal ihrer Lebenslage zu Tage, aus dem sich viele<br />

andere Merkmale des "Elends" (psychische Belastungen, De-Solidarisierung, Verlust <strong>von</strong> Selbstwert und Würde)<br />

ableiten. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Studie vom April 2009 der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

(OECD) besagt, dass 1,8 Milliarden Menschen, das s<strong>in</strong>d 60% der globalen Arbeitsbevölkerung, ohne formellen<br />

Arbeitsvertrag und ohne soziale Absicherung <strong>in</strong> sogenannten "<strong>in</strong>formellen Arbeitsverhältnissen" stehen. <strong>Das</strong> bedeutet:<br />

ger<strong>in</strong>ge Entlohnung, hohe Unfallgefahr und nicht kontrollierte Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen, fehlende soziale Ab-<br />

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