Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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<strong>der</strong> Universalisierung des Standpunkts erweitert 284 . Beoba<strong>ch</strong>terrationalität bezei<strong>ch</strong>net<br />
also den beson<strong>der</strong>en Standpunkt, den eine einzelne Person einnehmen kann,<br />
wenn sie zusätzli<strong>ch</strong> zu ihren eigenen Interessen au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine überindividuelle Perspektive<br />
einnimmt und so einen zumutbaren Abglei<strong>ch</strong> von egoistis<strong>ch</strong>en mit altruistis<strong>ch</strong>en<br />
Motiven begründet 285 . Ri<strong>ch</strong>tig ist dana<strong>ch</strong> genau die Handlungsweise, die den<br />
eigenen Interessen, in zumutbarem Maße korrigiert um eine hypothetis<strong>ch</strong>e Außensi<strong>ch</strong>t<br />
<strong>der</strong> Dinge, entspri<strong>ch</strong>t.<br />
Die kantis<strong>ch</strong>e Grundposition spiegelt am besten das (perspektivis<strong>ch</strong>e) Rationalitätskonzept<br />
'Beoba<strong>ch</strong>ter' wi<strong>der</strong>. Beoba<strong>ch</strong>terstatus ist nur nötig, um von eigenen Interessen<br />
und Zielen zu abstrahieren, also einen moralis<strong>ch</strong>en Standpunkt einzunehmen,<br />
wie er den <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> kantis<strong>ch</strong>en Grundposition eigentümli<strong>ch</strong> ist 286 .<br />
dd) Der Diskurs<br />
Das Darstellungsmittel 'Diskurs' präsentiert mehrere Personen, die gemeinsam und<br />
ohne Zwang na<strong>ch</strong> dem su<strong>ch</strong>en, was für alle ri<strong>ch</strong>tig ist, und auf dieser Grundlage<br />
freiwillig Konsensen zustimmen, die dur<strong>ch</strong> neue Argumente relativiert werden können<br />
und dadur<strong>ch</strong> diskursiv kontrolliert bleiben.<br />
Das (argumentative) Rationalitätskonzept 'Diskurs' su<strong>ch</strong>t praktis<strong>ch</strong>e Erkenntnis<br />
in <strong>der</strong> Argumentation realer Personen unter idealen Bedingungen. Ri<strong>ch</strong>tig ist das,<br />
was Gegenstand eines Konsenses sein könnte. Das ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgende Element<br />
liegt in <strong>der</strong> Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit <strong>der</strong> (geda<strong>ch</strong>ten) Argumentation und Zustimmung.<br />
Diskursrationalität bezei<strong>ch</strong>net also die praktis<strong>ch</strong>e Erkenntnis, die si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> einer Argumentation<br />
unter vers<strong>ch</strong>iedenen Diskursteilnehmern einstellt, dur<strong>ch</strong> den Konsens<br />
<strong>der</strong> Beteiligten markiert wird und eine gegenseitige Verpfli<strong>ch</strong>tung während <strong>der</strong><br />
Dauer des Konsenses begründet. Ri<strong>ch</strong>tig ist dana<strong>ch</strong> genau die Handlungsweise,<br />
284 Die hier angespro<strong>ch</strong>enen universalistis<strong>ch</strong>en Standpunkttheorien unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> grundlegend<br />
von den (hier ni<strong>ch</strong>t gemeinten) partikularistis<strong>ch</strong>en Standpunkttheorien, die ganz bewußt einen parteili<strong>ch</strong>en<br />
Standpunkt einnehmen; vgl. etwa S. Hekman, Truth and Method (1997), S. 349: »The original<br />
formulations of feminist standpoint theory rest on two assumptions: that all knowledge is<br />
located and situated, and that one location, that of the standpoint of women, is privileged because<br />
it provides a vantage point that reveals the truth of social reality.«; S. Harding, Whose Standpoint<br />
Needs the Regimes of Truth and Reality? (1997), S. 383: »[S]tandpoint epistemologies and methodologies<br />
were constructed in opposition to the all-powerful dictates of rationalist/empiricist epistemologies<br />
and methodologies«; P.H. Collins, Where's the Power? (1997), S. 380: »One fundamental<br />
contribution of feminist movement grounded in standpoint theory was that it aimed to bring<br />
women's group consciousness into being.«<br />
285 T. Nagel, Equality and Impartiality (1991), S. 10 ff. (Kombination des persönli<strong>ch</strong>en und des überpersönli<strong>ch</strong>en<br />
Beoba<strong>ch</strong>terstandpunktes). S<strong>ch</strong>on bei Hume geht es ni<strong>ch</strong>t um einen auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />
überpersönli<strong>ch</strong>en Standpunkt, son<strong>der</strong>n um einen, <strong>der</strong> egoistis<strong>ch</strong>e Motive mitberücksi<strong>ch</strong>tigt;<br />
D. Hume, A Treatise of Human Nature, Bd. III: Of Morals (1740), Teil III, Abs<strong>ch</strong>nitt I: »We make allowance<br />
for a certain degree of selfishness in men«. Zu Ähnli<strong>ch</strong>keiten zwis<strong>ch</strong>en Vertrags- und<br />
Beoba<strong>ch</strong>terrationalität siehe W. Kersting, Die politis<strong>ch</strong>e Philosophie des Gesells<strong>ch</strong>aftsvertrags<br />
(1994), S. 51.<br />
286 Vgl. oben S. 95 (moralis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong>). Zum moralis<strong>ch</strong>en Standpunkt und seiner Definition<br />
vgl. K. Baier, Standpunkt <strong>der</strong> Moral (1958), S. 175 ff. (191): »Standpunkt eines unabhängigen,<br />
vorurteilslosen, unparteili<strong>ch</strong>en, objektiven, leidens<strong>ch</strong>aftslosen, neutralen Beoba<strong>ch</strong>ters.«<br />
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