Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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des Diskursprinzips in einem Modell deliberativer Politik an unvermeidbaren politis<strong>ch</strong>-realen<br />
Zwängen s<strong>ch</strong>eitern sollte, dies zu dem Rücks<strong>ch</strong>luß führen, daß ein realer<br />
Diskurs als Fundament gere<strong>ch</strong>ter sozialer Ordnung untaugli<strong>ch</strong> ist 352 .<br />
Do<strong>ch</strong> bleibt die Ergänzbarkeitsthese trotz ihrer insoweit bes<strong>ch</strong>ränkten Geltung<br />
wertvoll für alle Aussagen zur idealen Begründung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, denn sol<strong>ch</strong>e<br />
Aussagen sind unabhängig davon ri<strong>ch</strong>tig o<strong>der</strong> fals<strong>ch</strong>, ob die realen Anwendungsbedingungen<br />
bestehen. Um beim Beispiel zu bleiben: Ein einzelner, im staatli<strong>ch</strong>en Rahmen<br />
ni<strong>ch</strong>t umsetzbarer realer Diskurs könnte keinen Zweifel daran begründen, daß ideale<br />
Diskurse als Mittel praktis<strong>ch</strong>er Erkenntnis grundsätzli<strong>ch</strong> taugli<strong>ch</strong> sind 353 . Das bedeutet<br />
im Ergebnis: Eine unvollständige Theorie kann das Bild eines <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverständnisses<br />
für die staatli<strong>ch</strong>e Ordnung bereits in si<strong>ch</strong> tragen, ohne es im einzelnen zu<br />
explizieren. Sol<strong>ch</strong>e Unvollständigkeit ist zumindest für die ideale Begründung von<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> uns<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>, weil si<strong>ch</strong> eine Theorie ohne inhaltli<strong>ch</strong>e Än<strong>der</strong>ung um weitere<br />
Bausteine ergänzen und so zu einer umfassenden Theorie <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
vervollständigen läßt (Ergänzbarkeitsthese). Folgli<strong>ch</strong> können au<strong>ch</strong> allgemein<br />
formulierte <strong>Theorien</strong> über rationales Ents<strong>ch</strong>eiden sinnvoll als <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> untersu<strong>ch</strong>t werden 354 .<br />
b) Die Erweiterbarkeitsthese<br />
Bei <strong>der</strong> Erweiterbarkeitsthese geht es, vereinfa<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en, um die Unters<strong>ch</strong>eidung<br />
von 'Pfli<strong>ch</strong>t' und 'Kür' in <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>. Gegenwärtige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien<br />
sind auf eine vereinfa<strong>ch</strong>te Si<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Dinge konzentriert. Sie fragen<br />
nur na<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei <strong>der</strong> die definitionsgemäß relevanten 'an<strong>der</strong>en' 355<br />
aktuell und selbständig lebende Mens<strong>ch</strong>en sind, also we<strong>der</strong> Tiere, Pflanzen und unbelebte<br />
Entitäten, no<strong>ch</strong> Föten o<strong>der</strong> künftige Generationen. Die <strong>Theorien</strong> blenden<br />
damit die s<strong>ch</strong>wierige Frage aus, wel<strong>ch</strong>e Entitäten als Moralsubjekte und -objekte in Frage<br />
kommen 356 . Außerdem verzi<strong>ch</strong>ten sie auf eine Differenzierung na<strong>ch</strong> dem Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t<br />
und klammern damit die feministis<strong>ch</strong>e Theorie insgesamt aus 357 .<br />
352 Dazu unten S. 239 ff. (Diskursprinzip und deliberative Politik bei Habermas).<br />
353 Vgl. unten S. 218 ff. (idealer und realer Diskurs).<br />
354 Dazu unten S. 171 ff. (<strong>Theorien</strong> zur Optimierung relativer Nutzenfaktoren), S. 176 ff. (<strong>Theorien</strong><br />
zum Ni<strong>ch</strong>teinigungspunkt).<br />
355 Dazu oben S. 50 (D 1 ).<br />
356 Vgl. etwa I. Persson, Eine Basis für (Interspezies-)Glei<strong>ch</strong>heit (1994), S. 281 – <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> erfor<strong>der</strong>e,<br />
daß das Leben bestimmter ni<strong>ch</strong>tmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Wesen den glei<strong>ch</strong>en Wert habe wie das von<br />
Mens<strong>ch</strong>en; T. Regan, Unre<strong>ch</strong>tmäßig erworbene Vorteile (1994), S. 308 ff. – zum Kriterium des inhärenten<br />
Wertes.<br />
357 Zur Kritik etwa M. Matsuda, Liberal Jurisprudence and Abstracted Visions of Human Nature<br />
(1986), S. 616: »Behind Rawls's veil, woman thinking, the terrifying Other, is abstracted out.«;<br />
I.M. Young, Impartiality and Civic Public (1987), S. 58: »[I]deals of liberalism and contract theory,<br />
su<strong>ch</strong> as formal equality and universal rationality, are deeply marred by masculine biases about<br />
what it means to be human and the nature of society.«; V. Held, Non-contractual Society (1987),<br />
S. 112 f.: »[C]ontractual relations ... discount in very fundamental ways the experience of women.«;<br />
C. Pateman, The Sexual Contract (1988), S. 1: »We hear an enormous amount about the social<br />
contract; a deep silence is maintained about the sexual contract. ... Standard accounts of the<br />
social contract theory do not discuss the whole story«; S.M. Okin, Justice, Gen<strong>der</strong>, and the Family<br />
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