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Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

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1. Die Merkmale des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates<br />

Wenn aus <strong>der</strong> Diskurstheorie die Bedingungen von gere<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgenden Verfahren<br />

entwickelt werden sollen, so muß zunä<strong>ch</strong>st gefragt werden, wel<strong>ch</strong>e Funktion<br />

sol<strong>ch</strong>en Verfahren im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat zukommt. Der Begriff des<br />

demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates – wie <strong>der</strong> Demokratiebegriff allgemein – ist dabei<br />

ähnli<strong>ch</strong> umstritten wie <strong>der</strong>jenige <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 121 . Der kleinste gemeinsame<br />

Nenner ist von Lincoln in <strong>der</strong> 'Gettysburg Address' formuliert worden. Dana<strong>ch</strong> ist die<br />

Demokratie eine Herrs<strong>ch</strong>aft des Volkes, dur<strong>ch</strong> das Volk und für das Volk (»government<br />

of the people, by the people, and for the people«) 122 . In Anlehnung an die deuts<strong>ch</strong>e<br />

Verfassungsjudikatur läßt si<strong>ch</strong> weiter konkretisieren, daß es si<strong>ch</strong> um einen Staat mit<br />

freiheitli<strong>ch</strong>er demokratis<strong>ch</strong>er Grundordnung handeln muß, d.h. um »eine Ordnung<br />

..., die unter Auss<strong>ch</strong>luß jegli<strong>ch</strong>er Gewalt- und Willkürherrs<strong>ch</strong>aft eine re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong>e<br />

Herrs<strong>ch</strong>aftsordnung auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Selbstbestimmung des Volkes na<strong>ch</strong> dem<br />

Willen <strong>der</strong> jeweiligen Mehrheit und <strong>der</strong> Freiheit und Glei<strong>ch</strong>heit darstellt« 123 . Freiheits-<br />

und Glei<strong>ch</strong>heitsre<strong>ch</strong>te, Re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong>keit und Volkssouveränität eins<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />

parlamentaris<strong>ch</strong>er Gesetzgebung na<strong>ch</strong> dem Mehrheitsprinzip sind damit die<br />

Grundparameter <strong>der</strong> institutionalisierten Ordnung, <strong>der</strong>en Verfahren im folgenden<br />

untersu<strong>ch</strong>t werden sollen.<br />

2. Das relative Primat des <strong>Prozedurale</strong>n<br />

In demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaaten kann von einem 'relativen Primat des <strong>Prozedurale</strong>n'<br />

gespro<strong>ch</strong>en werden 124 . Mit dem 'Primat des <strong>Prozedurale</strong>n' ist gemeint, daß<br />

in einer Situation <strong>der</strong> inhaltli<strong>ch</strong>en Unbestimmtheit die gere<strong>ch</strong>te Ents<strong>ch</strong>eidung nur<br />

dur<strong>ch</strong> regelhaftes Verfahren gefunden werden kann. Von einem 'relativen' Primat<br />

muß man deshalb spre<strong>ch</strong>en, weil si<strong>ch</strong> die Verfahrensergebnisse innerhalb <strong>der</strong> Vorgaben<br />

zu halten haben, die dur<strong>ch</strong> unmittelbar begründete <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen gesetzt<br />

sind 125 . Das am Mehrheitserfor<strong>der</strong>nis orientierte Gesetzgebungsverfahren ist<br />

ein Beispiel dafür. Aber au<strong>ch</strong> im Geri<strong>ch</strong>ts- und Verwaltungsverfahren sind prozedurale<br />

Garantien immer dann geboten, wenn inhaltli<strong>ch</strong>e Gewißheit ni<strong>ch</strong>t herzustellen<br />

121 Vgl. G. Jo<strong>ch</strong>um, Materielle Anfor<strong>der</strong>ungen an das Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren in <strong>der</strong> Demokratie<br />

(1997), S. 23 f. – Unmögli<strong>ch</strong>keit einer allgemeinen und umfassenden Begriffsbestimmung <strong>der</strong> Demokratie.<br />

Zu den Differenzen <strong>der</strong> Demokratiebegriffe bei S<strong>ch</strong>umpeter, Barber, Gould und Dahl siehe<br />

T. Simon, Democracy and Social Injustice (1995), S. 143 ff. Für eine kurze Übersi<strong>ch</strong>t zu den Begriffen<br />

partizipatoris<strong>ch</strong>er, liberaler und repräsentativer Demokratie siehe A. Cortina, Diskursethik<br />

und partizipatoris<strong>ch</strong>e Demokratie (1993), S. 240 ff. Zur Abgrenzung des demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaates<br />

vom demokratis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tsstaat und vom formellen Re<strong>ch</strong>tsstaat R. Alexy, Die Institutionalisierung<br />

<strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te im demokratis<strong>ch</strong>en Verfassungsstaat (1998), S. 258 ff.<br />

m.w.N.<br />

122 Rede vom 19. November 1863, Text in: A. Rock, Dokumente <strong>der</strong> amerikanis<strong>ch</strong>en Demokratie<br />

(1947), S. 166.<br />

123 BVerfGE 2, 1 (12 f.) – SRP; bestätigt in BVerfGE 5, 85 (140) – KPD. Zur Analyse <strong>der</strong> Judikatur<br />

C. Gusy, Die 'freiheitli<strong>ch</strong>e demokratis<strong>ch</strong>e Grundordnung' in <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung des Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>ts<br />

(1980), S. 279 ff.<br />

124 Ähnli<strong>ch</strong> R. Pits<strong>ch</strong>as, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren (1990), S. 401 ff., 429<br />

ff. m.w.N.; A. Cortina, Diskursethik und partizipatoris<strong>ch</strong>e Demokratie (1993), S. 238 f.; T. Vesting,<br />

<strong>Prozedurale</strong>s Rundfunkre<strong>ch</strong>t (1997), S. 94 ff.<br />

125 Vgl. oben S. 216 (prozedurale und substantielle Verfassungsregeln).<br />

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