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Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

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ten in Habermas Theorie ist dieser Zustand ni<strong>ch</strong>t vereinbar 208 . Do<strong>ch</strong> könnte ein islamis<strong>ch</strong>er<br />

Diskurstheoretiker ähnli<strong>ch</strong> wie sein <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>er Kollege einwenden, daß<br />

bestimmte Freiheiten ni<strong>ch</strong>t diskurstheoretis<strong>ch</strong> geboten seien. Wer argumentiert, daß<br />

alle Betroffenen si<strong>ch</strong> in einem idealen Diskurs auf die Lebensweise des Islam einigen<br />

würden und nur dur<strong>ch</strong> die Verlockungen <strong>der</strong> realen Lebenswelt an dieser Einsi<strong>ch</strong>t<br />

gehin<strong>der</strong>t seien, <strong>der</strong> kehrt Habermas Behauptung um: Aus <strong>der</strong> Anwendung des Diskursprinzips<br />

auf das Re<strong>ch</strong>tsmedium als sol<strong>ch</strong>es folgt, daß das Re<strong>ch</strong>t den Islam gebieten<br />

muß. Eine sol<strong>ch</strong>e religiöse Instrumentalisierung des Re<strong>ch</strong>ts mag unbegründet<br />

sein, do<strong>ch</strong> solange Habermas ni<strong>ch</strong>t den Übergang vom Diskursprinzip zu universellen<br />

Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten dur<strong>ch</strong> Argumente abstützt, bilden <strong>der</strong>lei Gegenpositionen eine<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung für seine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie.<br />

Selbst für Singapur, dessen Staatsform si<strong>ch</strong> weitgehend an westli<strong>ch</strong>en Demokratievorstellungen<br />

orientiert, läßt si<strong>ch</strong> eine Unvereinbarkeit mit den Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen<br />

bei Habermas aufzeigen. Eine politis<strong>ch</strong>e Opposition zur Regierungsmehrheit ist<br />

zwar re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> erlaubt, tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> aber dur<strong>ch</strong> die staatli<strong>ch</strong>e Handhabung von Verleumdungsklagen<br />

nur s<strong>ch</strong>wer mögli<strong>ch</strong>. Individuelle Freiheiten stehen unter einem<br />

strikten Gemeins<strong>ch</strong>aftsvorbehalt (Medienregime, Kaugummiverbot, erniedrigende<br />

Prügelstrafen). Der demokratis<strong>ch</strong>en Sozialordnung westli<strong>ch</strong>en Musters, wie sie letztli<strong>ch</strong><br />

von Habermas mit den Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen na<strong>ch</strong>gezei<strong>ch</strong>net wird, entspre<strong>ch</strong>en<br />

diese weitgehenden Bes<strong>ch</strong>ränkungen öffentli<strong>ch</strong>er und privater Autonomie ni<strong>ch</strong>t.<br />

Do<strong>ch</strong> könnte ein Diskurstheoretiker in Singapur argumentieren, daß er sowohl dem<br />

Diskursprinzip als au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Notwendigkeit realer Diskurse zustimme und ledigli<strong>ch</strong><br />

in <strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> realen Diskurse an<strong>der</strong>e S<strong>ch</strong>werpunkte setze als dies in<br />

westli<strong>ch</strong>en Demokratien übli<strong>ch</strong> sei: Es gebe asiatis<strong>ch</strong>e Tugenden des Ehrgefühls und<br />

<strong>der</strong> Zurückhaltung, die <strong>der</strong> Meinungsfreiheit und damit den realen Diskursen engere<br />

Grenzen zögen als etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die regulative Idee<br />

des idealen Diskurses führe zwangsläufig je na<strong>ch</strong> den sozialen Rahmenbedingungen<br />

zu unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Anfor<strong>der</strong>ungen. Die Freiheiten, auf die si<strong>ch</strong> ideale Diskursteilnehmer<br />

in Singapur einigen würden, müßten deshalb an<strong>der</strong>e sein als in westli<strong>ch</strong>en<br />

Demokratien.<br />

Das letzte Beispiel zeigt die argumentativen S<strong>ch</strong>wierigkeiten, die zu überwinden<br />

sind, wenn aus <strong>der</strong> Diskurstheorie auf bestimmte Freiheiten ges<strong>ch</strong>lossen werden soll.<br />

Die vorausgegangenen Beispiele 'China' und 'Iran' belegen, warum es zusätzli<strong>ch</strong>er<br />

Gründe bedarf, wenn überhaupt universelle Freiheiten aus dem Diskursprinzip abgeleitet<br />

werden sollen. Sol<strong>ch</strong>e Gründe fehlen bisher bei Habermas. Seine <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie<br />

kann ni<strong>ch</strong>t vollständig erklären, warum Sozialordnungen wie diejenige<br />

Chinas, des Irans o<strong>der</strong> Singapurs illegitim und ungere<strong>ch</strong>t sind, obwohl ein sol<strong>ch</strong>es<br />

Urteil zu den Konsequenzen gehört, die aus den Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen bei Habermas<br />

zu ziehen wären.<br />

208 Vgl. L. Müller, Islam und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1996), S. 142 ff. (Bes<strong>ch</strong>ränkung <strong>der</strong> Religions-, Meinungs-<br />

und Vereinigungsfreiheit), S. 182 ff., 321 (Körperstrafen).<br />

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