Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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IV. Zur Wirts<strong>ch</strong>aft<br />
1. Die Wirts<strong>ch</strong>aft als Kontrapunkt zu Diskursen<br />
Im Gegensatz zu Re<strong>ch</strong>t und Politik hat <strong>der</strong> dritte große Sozialberei<strong>ch</strong>, die Wirts<strong>ch</strong>aft,<br />
keinerlei Diskurs<strong>ch</strong>arakter, son<strong>der</strong>n ist geradezu das Gegenteil eines Diskurses. Bei<br />
Marktents<strong>ch</strong>eidungen geht es den Akteuren ni<strong>ch</strong>t darum, was für alle gut o<strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tig<br />
wäre, son<strong>der</strong>n allein um ihre eigenen Interessen. Sie werden ni<strong>ch</strong>t als Wohltäter<br />
o<strong>der</strong> Staatsbürger tätig, son<strong>der</strong>n als egoistis<strong>ch</strong>e Nutzenmaximierer. Es geht ni<strong>ch</strong>t um<br />
Konsense, son<strong>der</strong>n um situative Kompromisse. Das Mittel <strong>der</strong> Interaktion ist ni<strong>ch</strong>t<br />
<strong>der</strong> Diskurs, son<strong>der</strong>n die Verhandlung 249 .<br />
Markt, Verhandlung und Vertrag bilden glei<strong>ch</strong>wohl zusammen ein Verfahrensmodell,<br />
dem man die Funktion <strong>der</strong> quasi-reinen prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zuordnen<br />
kann. Was immer als Verhandlungsergebnis im Vertrag bes<strong>ch</strong>lossen wird, gilt<br />
als ri<strong>ch</strong>tig und gere<strong>ch</strong>t, wenn ni<strong>ch</strong>t ausnahmsweise eine Verletzung re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Rahmenbedingungen<br />
vorliegt. Aber die 'Ri<strong>ch</strong>tigkeit', von <strong>der</strong> hier die Rede ist, entspri<strong>ch</strong>t<br />
ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong>jenigen, an <strong>der</strong> si<strong>ch</strong> ein (re<strong>ch</strong>tspolitis<strong>ch</strong>er) Diskurs orientiert: Der<br />
re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Rahmen reduziert si<strong>ch</strong> innerhalb <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft zu einem Faktor des klugen<br />
Kalküls 250 . Die Wirts<strong>ch</strong>aft s<strong>ch</strong>ließt ni<strong>ch</strong>t alle pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en<br />
Gründe ein, son<strong>der</strong>n bes<strong>ch</strong>ränkt si<strong>ch</strong> allein auf pragmatis<strong>ch</strong>e; sie strebt na<strong>ch</strong><br />
effizienter Erzielung von Kooperationsgewinnen 251 .<br />
Au<strong>ch</strong> für das ni<strong>ch</strong>tdiskursive Verfahrensmodell <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aft lassen si<strong>ch</strong> Anwendungsbedingungen<br />
und Verfahrensregeln formulieren, bei <strong>der</strong>en Ni<strong>ch</strong>teinhaltung<br />
die Ergebnisse des Marktes ungere<strong>ch</strong>t werden. Diese Anwendungsbedingungen<br />
und Verfahrensregeln werden in <strong>der</strong> Wirts<strong>ch</strong>aftstheorie unter <strong>der</strong> Übers<strong>ch</strong>rift<br />
des Marktversagens (market failure) diskutiert 252 . Eine Theorie des Marktversagens ist<br />
hier ni<strong>ch</strong>t zu entwickeln, do<strong>ch</strong> sei darauf hingewiesen, daß es grundsätzli<strong>ch</strong> zwei Lösungswege<br />
für sol<strong>ch</strong>e Fälle gibt. Entwe<strong>der</strong> das Marktversagen (z.B. Monopolbildung,<br />
Dumping) wird dur<strong>ch</strong> eine Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Rahmenbedingungen<br />
des Marktes beseitigt (z.B. Fusionskontrolle, Kartellverbot), o<strong>der</strong> <strong>der</strong> problematis<strong>ch</strong>e<br />
Gegenstand (z.B. öffentli<strong>ch</strong>e Güter) wird (als ultima ratio 253 ) ganz aus dem Marktmodell<br />
herausgenommen 254 .<br />
249 Vgl. oben S. 232 (arguing vs. bargaining).<br />
250 Ähnli<strong>ch</strong> bereits M. Weber, Wirts<strong>ch</strong>aft und Gesells<strong>ch</strong>aft (1976), Bd. I, S. 181: »Wenn nun trotzdem<br />
Wirts<strong>ch</strong>afts- und Re<strong>ch</strong>tsordnung in hö<strong>ch</strong>st intimen Beziehungen zueinan<strong>der</strong> stehen, so ist eben<br />
diese letztere dabei ni<strong>ch</strong>t in juristis<strong>ch</strong>em, son<strong>der</strong>n in soziologis<strong>ch</strong>em Sinne verstanden: als empiris<strong>ch</strong>e<br />
Geltung. Der Sinn des Wortes 'Re<strong>ch</strong>tsordnung' än<strong>der</strong>t si<strong>ch</strong> dann völlig. Sie bedeutet dann<br />
ni<strong>ch</strong>t einen Kosmos logis<strong>ch</strong> als 'ri<strong>ch</strong>tig' ers<strong>ch</strong>ließbarer Normen, son<strong>der</strong>n einen Komplex von faktis<strong>ch</strong>en<br />
Bestimmungsgründen realen mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Handelns.« (Hervorhebung bei Weber).<br />
251 Vgl. oben S. 169 (T RC ).<br />
252 R.A. Posner, Economic Analysis of Law (1992), S. 271 ff., 367 ff. mit Kritik am Begriff.<br />
253 Vgl. R.A. Posner, Economic Analysis of Law (1992), S. 367 f. – »incentives« statt »regulation«.<br />
254 Vgl. oben S. 276 (Beitragsdilemma bei öffentli<strong>ch</strong>en Gütern).<br />
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