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Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

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nungen betra<strong>ch</strong>ten, also unsere re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Weltsi<strong>ch</strong>t unter Eins<strong>ch</strong>luß von Vorverständnis<br />

und intuitivem Hintergrundwissen 600 . Habermas identifiziert zeitli<strong>ch</strong> gestaffelt<br />

zunä<strong>ch</strong>st ein liberales Re<strong>ch</strong>tsparadigma, das die klassis<strong>ch</strong>en Gesetzbü<strong>ch</strong>ern<br />

des Privatre<strong>ch</strong>ts beherrs<strong>ch</strong>t habe, dann ein sozialstaatli<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>tsparadigma, das<br />

dur<strong>ch</strong> Materialisierung des Re<strong>ch</strong>ts dem Problem des Marktversagens im reinen Liberalismus<br />

Re<strong>ch</strong>nung tragen wollte, und neuerdings ein prozeduralistis<strong>ch</strong>es Re<strong>ch</strong>tsparadigma,<br />

das auf die ni<strong>ch</strong>t-intendierten, privatautonomiebes<strong>ch</strong>ränkenden Folgen <strong>der</strong><br />

sozialstaatli<strong>ch</strong>en Verre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>ung eine Antwort finden soll 601 . An<strong>der</strong>s als beim liberal-<br />

und sozialstaatli<strong>ch</strong>en Paradigma, die entwe<strong>der</strong> formales o<strong>der</strong> materiales Re<strong>ch</strong>t<br />

favorisiert haben, soll das prozedurale Paradigma ni<strong>ch</strong>t eine bestimmte Re<strong>ch</strong>tsform<br />

(etwa das prozedurale o<strong>der</strong> das 'reflexive' Re<strong>ch</strong>t 602 ) bevorzugen, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />

unabhängig von <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsform private und öffentli<strong>ch</strong>e Autonomie dur<strong>ch</strong> einen auf<br />

Dauer angelegten verfassunggebenden Prozeß si<strong>ch</strong>ern 603 . Die Grundre<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> privaten<br />

Autonomie (vereinfa<strong>ch</strong>t: Freiheit, Glei<strong>ch</strong>heit, Eigentum) und <strong>der</strong> öffentli<strong>ch</strong>en Autonomie<br />

(vereinfa<strong>ch</strong>t: Aktivbürgers<strong>ch</strong>aft, Kommunikationsgrundre<strong>ch</strong>te) entstehen und<br />

bestehen na<strong>ch</strong> dem prozeduralen Re<strong>ch</strong>tsparadigma erst dur<strong>ch</strong> einen fortwährenden<br />

Prozeß <strong>der</strong> staatsbürgerli<strong>ch</strong>en Aktivität 604 . Legitime Re<strong>ch</strong>tssetzung beruht auf <strong>der</strong><br />

Einri<strong>ch</strong>tung von Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen (z.B. Wahlen, Abstimmungen,<br />

Medien, Ma<strong>ch</strong>tbegrenzungen, Äußerungsmögli<strong>ch</strong>keiten) für eine diskursive<br />

Meinungs- und Willensbildung 605 . Die deliberative Politik dur<strong>ch</strong> Zivilgesells<strong>ch</strong>aft<br />

und politis<strong>ch</strong>e Öffentli<strong>ch</strong>keit bildet den materiellen Gehalt dieses prozeduralen<br />

Re<strong>ch</strong>tsparadigmas 606 . Re<strong>ch</strong>t ist also ni<strong>ch</strong>t mehr primär Freiheitsgarant (liberales<br />

Paradigma) o<strong>der</strong> Instrument <strong>der</strong> materiellen Glei<strong>ch</strong>stellung (sozialstaatli<strong>ch</strong>es Paradigma),<br />

son<strong>der</strong>n in erster Linie Garant für die Bedingungen, unter denen ein spontane<br />

öffentli<strong>ch</strong>e Kommunikation bestehen und die Re<strong>ch</strong>tsordnung fortwährend legitimieren<br />

kann.<br />

f) Ergebnisse<br />

Habermas Katalog <strong>der</strong> Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen bietet gegenüber Rawls <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />

wenig Neues. Gerade deshalb kommt dem Gedanken <strong>der</strong> deliberativen<br />

600 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 468 ff.<br />

601 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 469 ff. (493): »das prozeduralistis<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>tsparadigma,<br />

das aus <strong>der</strong> Sackgasse des Sozialstaatsmodells herausführen soll«. Zur Begründung des<br />

Paradigmenwe<strong>ch</strong>sels ebd., S. 504 f.: »Das sozialstaatli<strong>ch</strong>e Paradigma des Re<strong>ch</strong>ts orientiert si<strong>ch</strong><br />

auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> am Problem <strong>der</strong> gere<strong>ch</strong>ten Verteilung <strong>der</strong> gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> produzierten Lebens<strong>ch</strong>ancen.<br />

Indem es <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> auf distributive <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> reduziert, verfehlt es den freiheitsverbürgenden<br />

Sinn legitimer Re<strong>ch</strong>te ... Der komplementäre Fehler des liberalen Re<strong>ch</strong>tsparadigmas<br />

liegt darin, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> auf eine glei<strong>ch</strong>e Distribution von Re<strong>ch</strong>ten zu reduzieren, d.h. Re<strong>ch</strong>te<br />

auf Güter zu assimilieren, die man aufteilen und besitzen kann.« (Hervorhebung bei Habermas).<br />

602 Zu ersterem als Alternative zu formalem und materialem Re<strong>ch</strong>t J. Habermas, Faktizität und Geltung<br />

(1992), S. 528; zu letzterem: ebd., S. 494 m.w.N.<br />

603 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 494.<br />

604 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 515.<br />

605 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 527. Als Beispiel nennt Habermas, ebd., S. 533<br />

die Versu<strong>ch</strong>e zu einer stärkeren Konstitutionalisierung <strong>der</strong> Medienma<strong>ch</strong>t.<br />

606 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 536.<br />

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