Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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Na<strong>ch</strong> dem von Parfit ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>te Beitragsdilemma (contributor's dilemma) lassen<br />
si<strong>ch</strong> bestimmte öffentli<strong>ch</strong>e Güter nur realisieren, wenn die Beitragsleistungen auf sittli<strong>ch</strong>en<br />
o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>en Motiven beruhen, statt auf reinem Eigeninteresse 82 . Um beispielsweise<br />
eine saubere Stadt für alle zu si<strong>ch</strong>ern, muß i<strong>ch</strong> mein Kaugummi zum<br />
nä<strong>ch</strong>sten Mülleimer bringen, statt es auf den Gehweg zu spucken. Als eifriger Kaugummikauer<br />
könnte i<strong>ch</strong> das aus Eigeninteresse ni<strong>ch</strong>t tun, denn <strong>der</strong> Vorteil, <strong>der</strong> mir<br />
persönli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> das geringfügig reinli<strong>ch</strong>ere Stadtbild erwä<strong>ch</strong>st, wiegt den Na<strong>ch</strong>teil<br />
des zusätzli<strong>ch</strong>en Weges ni<strong>ch</strong>t auf. Der Beitrag ist für mi<strong>ch</strong> größer, als er für Ni<strong>ch</strong>tkaugummikauer<br />
wäre. Das Beitragsdilemma besteht also darin, daß zwar alle einsehen,<br />
warum in öffentli<strong>ch</strong>e Güter investiert werden muß, einige aber mehr zu leisten<br />
haben als an<strong>der</strong>e, so daß es meist einige gibt, die ni<strong>ch</strong>t aus reinen Vorteilserwägungen<br />
heraus ihren Beitrag leisten könnten. Beginnen aber erst einige, ihre Beitragsleistung<br />
einzustellen, so wirkt si<strong>ch</strong> das auf die Motivation <strong>der</strong> übrigen na<strong>ch</strong>haltig aus<br />
und das öffentli<strong>ch</strong>e Gut (hier: Reinheit <strong>der</strong> Stadt) geht in einer Kettenreaktion des<br />
Beitragsversagens unter.<br />
In vielen Berei<strong>ch</strong>en, etwa beim Steueraufkommen für Wohlfahrtsmaßnahmen, bei<br />
<strong>der</strong> Sozialversi<strong>ch</strong>erung o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Solidargemeins<strong>ch</strong>aften, kann <strong>der</strong> Staat die Beiträge<br />
dur<strong>ch</strong> Re<strong>ch</strong>tszwang effektiv dur<strong>ch</strong>setzen. Au<strong>ch</strong> in den Kernberei<strong>ch</strong>en des Umwelts<strong>ch</strong>utzes<br />
wirkt Re<strong>ch</strong>tszwang no<strong>ch</strong>, da si<strong>ch</strong> die Sanktionierung gravieren<strong>der</strong> Vers<strong>ch</strong>mutzungen<br />
effektiv dur<strong>ch</strong>setzen läßt. In Bagatellberei<strong>ch</strong>en, etwa beim Kaugummibeispiel,<br />
ist <strong>der</strong> Staat hingegen auf die freiwillige und uneigennützige Unterstützung<br />
<strong>der</strong> Bürger angewiesen. Bestimmte Güter lassen si<strong>ch</strong> nur realisieren, wenn die Bürger<br />
zu sittli<strong>ch</strong>em o<strong>der</strong> moralis<strong>ch</strong>em Handeln motiviert werden können. Diese Motivation,<br />
Beiträge zur Erhaltung o<strong>der</strong> S<strong>ch</strong>affung öffentli<strong>ch</strong>er Güter selbst dann zu leisten,<br />
wenn Re<strong>ch</strong>tszwang o<strong>der</strong> Sozialkontrolle sie ni<strong>ch</strong>t effektiv dur<strong>ch</strong>setzen könnten,<br />
ist au<strong>ch</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> beoba<strong>ch</strong>tbar. Wäre dies ni<strong>ch</strong>t so, dann müßte je<strong>der</strong> unbeoba<strong>ch</strong>tete<br />
Wan<strong>der</strong>er auf dem Gipfel eines Berges seine Picknickabfälle aus Bequemli<strong>ch</strong>keit<br />
liegen lassen. Daß er dies ni<strong>ch</strong>t tut, erklärt si<strong>ch</strong> keinesfalls eigennützig aus <strong>der</strong> Vermeidung<br />
von Sanktionen (d.h. hobbesianis<strong>ch</strong>), son<strong>der</strong>n vielmehr daraus, daß er die<br />
Reinhaltung als individuelles o<strong>der</strong> kollektives Ideal akzeptiert (d.h. aristotelis<strong>ch</strong>),<br />
o<strong>der</strong> dadur<strong>ch</strong>, daß das Ni<strong>ch</strong>tvers<strong>ch</strong>mutzen für ihn eine moralis<strong>ch</strong>e Pfli<strong>ch</strong>t ist (d.h.<br />
kantis<strong>ch</strong>) 83 .<br />
d) Das Wählerparadoxon (Condorcet, K.J. Arrow)<br />
Eine entspre<strong>ch</strong>ende Argumentation für freiwillige und uneigennützige Bürgermitwirkung<br />
läßt si<strong>ch</strong> beim Wählerparadoxon (voter's paradox) zeigen. Das Paradoxon,<br />
das zunä<strong>ch</strong>st für den Einzelfall von Abstimmungen mit mehreren Alternativen<br />
82 D. Parfit, Reasons and Persons (1984), S. 61 f.: »The commonest true Dilemmas are Contributor's<br />
Dilemmas. ... [O]nly a very small portion of the benefit he adds will come back to him. ... It may<br />
thus be better for ea<strong>ch</strong> if he does not contribute. ... Commuters: Ea<strong>ch</strong> goes faster if he drives, but if<br />
all drive ea<strong>ch</strong> goes slower than if all take buses; Soldiers: Ea<strong>ch</strong> will be safer if he turns and runs,<br />
but if all do more will be killed than if none do; Fishermen: When the sea is overfished, it can be<br />
better for ea<strong>ch</strong> if he tries to cat<strong>ch</strong> more, worse for ea<strong>ch</strong> if all do; ...« (Hervorhebungen bei Parfit).<br />
83 Vgl. D. Parfit, Reasons and Persons (1984), S. 64 – einige Lösungsmögli<strong>ch</strong>keiten zum Beitragsdilemma:<br />
»We might become Kantians. ... We might become more altruistic.« (Hervorhebungen bei<br />
Parfit).<br />
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