Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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gebe allenfalls eine 'relative Lösung' des Problems <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 16 . <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen<br />
sind bei Kelsen aus dem Berei<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis in denjenigen <strong>der</strong> Bekenntnis<br />
verdrängt, können also nur no<strong>ch</strong> als hö<strong>ch</strong>stpersönli<strong>ch</strong>e Gewissensents<strong>ch</strong>eidung<br />
o<strong>der</strong> als Glaube an Gott gelten 17 .<br />
Die aus Kelsens <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis resultierende »relativistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sphilosophie«<br />
18 enthält glei<strong>ch</strong>wohl eine Theorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Sinne von<br />
D 2 . So, wie die bewußte Abwendung von allen Religionen selbst wie<strong>der</strong> ein Bekenntnis<br />
ausdrückt, so liegt au<strong>ch</strong> in Kelsens <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis eine positive Aussage<br />
über ri<strong>ch</strong>tiges Handeln. Wer nämli<strong>ch</strong> absolute <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als irrationales Ideal ablehnt,<br />
dem bleibt in politis<strong>ch</strong>-sozialer Konsequenz das Gebot <strong>der</strong> gegenseitigen Toleranz,<br />
das Kelsen glei<strong>ch</strong>setzt mit gegenseitiger A<strong>ch</strong>tung von Freiheit 19 . Die Demokratie<br />
wird nur insoweit zur gere<strong>ch</strong>ten Staatsform, als sie Toleranz und Freiheit<br />
si<strong>ch</strong>ert 20 . Kelsens Demokratietheorie ist dabei keine prozedurale Theorie im Sinne<br />
von D 4 . Denn dazu müßte sowohl die Begründung als au<strong>ch</strong> die Erzeugung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
prozedural bestimmt werden. Bei Kelsen gilt die Demokratie genau dann<br />
als gere<strong>ch</strong>te Staatsform, wenn das demokratis<strong>ch</strong>e Verfahren ein vorbestimmtes Ziel<br />
individueller Freiheit verwirkli<strong>ch</strong>en kann (unvollkommene prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
i.S.v. D 3b ). In seiner Theorie ist also die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>serzeugung prozedural.<br />
Das gilt indes ni<strong>ch</strong>t für die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung. Insoweit ist Kelsen Skeptiker,<br />
weil seine relativistis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sphilosophie eine Beurteilung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeptionen<br />
als ri<strong>ch</strong>tig o<strong>der</strong> fals<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zuläßt.<br />
III. Theorie <strong>der</strong> spontanen sozialen Ordnung (F.A. Hayek)<br />
Eine beson<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> marktzentrierten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie entwickelt Hayek<br />
aus seinem Modell <strong>der</strong> spontanen Ordnung in sozialen Systemen 21 . Spontane Ordnung<br />
im Sinne Hayeks ist dadur<strong>ch</strong> gekennzei<strong>ch</strong>net, daß si<strong>ch</strong> Individuen innerhalb vorausgesetzter,<br />
angemessener Rahmenbedingungen, die unter mögli<strong>ch</strong>st geringem<br />
Zwang (minimal coercion) universell befolgt werden, na<strong>ch</strong> ihren pragmatis<strong>ch</strong>rationalen<br />
Eigeninteressen selbständig (d.h. ohne äußere Steuerung) arrangieren.<br />
Die im Ergebnis eintretende Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>tslage weise die Fähigkeit zur Selbstkorrektur<br />
und insofern Stabilität auf und könne verteiltes Wissen besser nutzen als eine<br />
direktive Organisation 22 . Modellfall ist für Hayek die liberale Marktwirts<strong>ch</strong>aft im Ge-<br />
16 H. Kelsen, Was ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>? (1975), S. 17: »Das Absolute im allgemeinen und absolute Werte<br />
im beson<strong>der</strong>en sind jenseits <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Vernunft, für die nur eine bedingte und in diesem<br />
Sinne relative Lösung des Problems <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als des Problems <strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Verhaltens mögli<strong>ch</strong> ist.«; S. 40: »Wenn die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te <strong>der</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Erkenntnis<br />
uns irgend etwas lehren kann, ist es die Vergebli<strong>ch</strong>keit des Versu<strong>ch</strong>es, auf rationalem Wege eine<br />
absolut gültige Norm gere<strong>ch</strong>ten Verhaltens zu finden ...«.<br />
17 R. Walter, Hans Kelsen, die Reine Re<strong>ch</strong>tslehre und das Problem <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1996), S. 231 ff.<br />
18 Begriff bei H. Kelsen, Was ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>? (1975), S. 40.<br />
19 Ausführli<strong>ch</strong> H. Kelsen, Was ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>? (1975), S. 40-43.<br />
20 H. Kelsen, Was ist <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>? (1975), S. 15 f., 41 f.<br />
21 Zur Abgrenzung von Kelsen siehe F.A. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. II (1976), S. 48 ff.<br />
22 Vgl. die Kritik an den Begriffen <strong>der</strong> sozialen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit bei F.A.<br />
Hayek, Law, Legislation and Liberty, Bd. II (1976), S. 62 ff.; zur Ablehnung direktiver Organisation<br />
siehe R. Kley, Hayek's Social and Political Thought (1994), S. 120.<br />
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