16.04.2014 Aufrufe

Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Die Skalierbarkeit ist, obwohl sie häufig impliziert wird, keinesfalls trivial. Was<br />

im Kleinen gere<strong>ch</strong>t ist, läßt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in jedem Fall auf größere Maßstäbe übertragen,<br />

ohne daß si<strong>ch</strong> an <strong>der</strong> Begründbarkeit etwas än<strong>der</strong>t. Im Gegenteil. Eine einfa<strong>ch</strong>e<br />

Überlegung zur Informiertheit <strong>der</strong> Beteiligten zeigt, daß zumindest bei <strong>der</strong> realen<br />

Umsetzung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> die Größe des Beteiligtenkreises einen Unters<strong>ch</strong>ied bedeutet.<br />

Nehmen wir beispielsweise den Fall, daß <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in einem Zweipersonenverhältnis<br />

dur<strong>ch</strong> Vertragsverhandlung hergestellt werden soll. Dazu muß und<br />

kann davon ausgegangen werden, daß die beiden Beteiligten über alle relevanten<br />

Umstände und Interessen des jeweils an<strong>der</strong>en annähernd vollständig informiert sind.<br />

Vergrößert man aber den Beteiligtenkreis auf die staatli<strong>ch</strong>e Gemeins<strong>ch</strong>aft, so kann<br />

bei Verhandlungen zwis<strong>ch</strong>en Gruppen (etwa einer religiösen Min<strong>der</strong>heit mit <strong>der</strong><br />

Mehrheit) die vollständige Informiertheit getrenntleben<strong>der</strong> Bevölkerungsgruppen<br />

untereinan<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr länger angenommen werden. Sie müßte erst dur<strong>ch</strong> zusätzli<strong>ch</strong>e<br />

Maßnahmen si<strong>ch</strong>ergestellt werden – etwa dur<strong>ch</strong> einen funktionierenden Meinungsmarkt<br />

(marketplace of ideas 350 ) o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e effektive Informationsmedien. Erst<br />

dadur<strong>ch</strong> wäre die Verglei<strong>ch</strong>barkeit <strong>der</strong> Makro- mit <strong>der</strong> Mikrosituation wie<strong>der</strong>hergestellt.<br />

Die Übertragung eines Ergebnisses aus <strong>der</strong> experimentellen Zweipersonensituation<br />

auf die Größenordnung eines staatli<strong>ch</strong>en Gemeinwesens kann also jedenfalls<br />

ni<strong>ch</strong>t in allen Fällen, wie von <strong>der</strong> Skalierbarkeitsthese vorausgesetzt, ohne inhaltli<strong>ch</strong>en<br />

Unters<strong>ch</strong>ied o<strong>der</strong> weitere Voraussetzungen ges<strong>ch</strong>ehen, son<strong>der</strong>n bedarf zusätzli<strong>ch</strong>er<br />

Re<strong>ch</strong>tfertigung. Wer eine Mikrotheorie <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu einer Makrotheorie<br />

ausbauen will, um sie an<strong>der</strong>en Makrotheorien gegenüberzustellen, muß zusätzli<strong>ch</strong><br />

begründen, warum die Skalierung an den im Kleinen begründeten Ergebnissen<br />

ni<strong>ch</strong>ts än<strong>der</strong>t.<br />

Wenn die Skalierbarkeitsthese für die reale Umsetzung von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> also zumindest<br />

in einigen Fällen unzutreffend ist, so behält sie do<strong>ch</strong> ihren Wert. Für das<br />

ideale Begründungsmodell, wie es alle <strong>Theorien</strong> enthalten, ist die These nämli<strong>ch</strong> zutreffend.<br />

Im geda<strong>ch</strong>ten Idealzustand sind Voraussetzungen <strong>der</strong> Makrosituation (staatli<strong>ch</strong>e<br />

Gemeins<strong>ch</strong>aft) ebenso hypothetis<strong>ch</strong> wie diejenigen <strong>der</strong> Mikrosituation (Gedankenexperiment<br />

mit zwei Personen). Die maßstäbli<strong>ch</strong>e Vergrößerung des Anwendungsberei<strong>ch</strong>s<br />

einer Theorie krankt also ni<strong>ch</strong>t daran, daß si<strong>ch</strong> ihre Voraussetzungen<br />

unter den Bedingungen <strong>der</strong> realen Welt verän<strong>der</strong>n. Der geda<strong>ch</strong>te Vertrag o<strong>der</strong> <strong>der</strong> geda<strong>ch</strong>te<br />

Diskurs behalten im Kleinen wie im Großen stets dieselbe Struktur.<br />

350 In heutigem Verständnis zuerst Holmes Min<strong>der</strong>heitenvotum in Abrams vs. United States, 250 U.S.<br />

616, 630 (1919): »But when men have realized that time has upset many fighting faiths, they may<br />

come to believe even more than they believe the very foundations of their own conduct that the<br />

ultimate good desired is better rea<strong>ch</strong>ed by free trade in ideas – that the best test of truth is the power<br />

of the thought to get itself accepted in the competition of the market, and that truth is the only<br />

ground upon whi<strong>ch</strong> their wishes safely can be carried out. That at any rate is the theory of our<br />

Constitution.« Vgl. dazu BVerfGE 5, 85 (135) – KPD-Verbotsurteil: »Denn es ist eine <strong>der</strong> Grundans<strong>ch</strong>auungen<br />

<strong>der</strong> freiheitli<strong>ch</strong>en Demokratie, daß nur die ständige geistige Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

zwis<strong>ch</strong>en den einan<strong>der</strong> begegnenden sozialen Kräften und Interessen, den politis<strong>ch</strong>en Ideen und<br />

damit au<strong>ch</strong> den sie vertretenden politis<strong>ch</strong>en Parteien <strong>der</strong> ri<strong>ch</strong>tige Weg zur Bildung des Staatswillens<br />

ist – ni<strong>ch</strong>t in dem Sinne, daß er immer objektiv ri<strong>ch</strong>tige Ergebnisse liefere, denn dieser Weg<br />

ist a process of trial and error (I. B. Talmon), aber do<strong>ch</strong> so, daß er dur<strong>ch</strong> die ständige gegenseitige<br />

Kontrolle und Kritik die beste Gewähr für eine (relativ) ri<strong>ch</strong>tige politis<strong>ch</strong>e Linie als Resultante<br />

und Ausglei<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en den im Staat wirksamen politis<strong>ch</strong>en Kräften gibt.«<br />

112

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!