Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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ni<strong>ch</strong>t dagegen auf die Motive für das Handeln abstellt, enthält die Definition ein objektives<br />
Element, das sie von tugendzentrierten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffen unters<strong>ch</strong>eidet.<br />
Wi<strong>ch</strong>tig wird dies in allen Fällen konfligieren<strong>der</strong> Verhaltensanfor<strong>der</strong>ungen.<br />
Normalerweise besteht die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> des Einzelnen na<strong>ch</strong> idealistis<strong>ch</strong>em o<strong>der</strong> tugendhaftem<br />
Verständnis gerade in <strong>der</strong> Einhaltung <strong>der</strong> Regeln aller normativen Teilordnungen,<br />
also insbeson<strong>der</strong>e im Gesetzesgehorsam, <strong>der</strong> Religiosität, <strong>der</strong> Loyalität<br />
und in <strong>der</strong> übrigen Sittli<strong>ch</strong>keit. Subjektives Verständnis und objektive Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
entspre<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> dann. Die Entspre<strong>ch</strong>ung endet jedo<strong>ch</strong> dort, wo individuelle<br />
Tugendvorstellung und normative Ordnung konfligieren (z.B. weil jemand die Verfolgung<br />
eigener Interessen au<strong>ch</strong> dort no<strong>ch</strong> für gere<strong>ch</strong>t hält, wo sie gesetzli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on<br />
den Betrugstatbestand erfüllt) 127 , wo die individuelle Moral über die Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
sozialer Ordnung hinausgeht (z.B. wenn S<strong>ch</strong>uld empfunden wird, obwohl ein Verhalten<br />
gesetzli<strong>ch</strong> und sittli<strong>ch</strong> objektiv gere<strong>ch</strong>tfertigt war), wo eine normative Ordnung<br />
wi<strong>der</strong>sprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es verlangt und dadur<strong>ch</strong> unerfüllbar wird o<strong>der</strong> – und dies ist<br />
<strong>der</strong> häufigste und s<strong>ch</strong>wierigste Fall – wo normative Ordnungen untereinan<strong>der</strong> konfligieren,<br />
etwa Religion o<strong>der</strong> Sitte mit dem Gesetz, so daß <strong>der</strong> Einzelne keine Mögli<strong>ch</strong>keit<br />
hat, die Normen aller für ihn subjektiv verbindli<strong>ch</strong>en Ordnungen glei<strong>ch</strong>zeitig zu<br />
a<strong>ch</strong>ten. Ein subjektiver <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff führt in Konfliktfällen notwendig zur<br />
Unbestimmtheit. Demgegenüber bietet D 1 als objektive Definition die Mögli<strong>ch</strong>keit,<br />
als gere<strong>ch</strong>t nur dasjenige Verhalten anzusehen, das si<strong>ch</strong> unter Berücksi<strong>ch</strong>tigung <strong>der</strong><br />
Verhaltenserwartungen aus allen normativen Teilordnungen insgesamt als ri<strong>ch</strong>tig<br />
erweist. Ein gesetzli<strong>ch</strong>es Gebot kann si<strong>ch</strong> in dieser Gesamtbetra<strong>ch</strong>tung beispielsweise<br />
als 'ungere<strong>ch</strong>t' erweisen, wenn es von den Normadressaten unangemessen intensive<br />
Zugeständnisse an ihre Religiosität o<strong>der</strong> Sittli<strong>ch</strong>keit verlangt 128 .<br />
4. Die holistis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffe<br />
Neben <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriffen, die enger als <strong>der</strong> in D 1 definierte sind, gibt es au<strong>ch</strong><br />
sol<strong>ch</strong>e, die si<strong>ch</strong> wegen ihrer uferlosen Weite für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ni<strong>ch</strong>t eignen.<br />
Zu diesen gehören die Begriffe <strong>der</strong> Gottes- und <strong>der</strong> Weltgere<strong>ch</strong>tigkeit, die auf je eigene<br />
Art von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> au<strong>ch</strong> jenseits des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Handelns spre<strong>ch</strong>en und<br />
in diesem Sinne 'holistis<strong>ch</strong>' genannt werden können.<br />
Ein religiöses Verständnis <strong>der</strong> '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Gottes' 129 kann selbst dort Kriterien<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> erri<strong>ch</strong>ten, wo unmittelbare persönli<strong>ch</strong>e Verhaltensverantwortung<br />
von Mens<strong>ch</strong>en gänzli<strong>ch</strong> fehlt 130 . Der allmä<strong>ch</strong>tige und allwissende Gott mag dabei<br />
zwar als 'handlungsfähig' bezei<strong>ch</strong>net werden, do<strong>ch</strong> dann mit an<strong>der</strong>em Sinngehalt als<br />
127 Ein entspre<strong>ch</strong>endes Beispiel zum fehlenden Vorsatz bei deliktis<strong>ch</strong>em Verhalten findet si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong><br />
bei Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, V 10 (1134a 17-23).<br />
128 Vgl. oben S. 63 ff. (weiter <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff im Gegensatz zu engeren Begriffen).<br />
129 Unter '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Gottes' versteht die Moraltheologie die 'Re<strong>ch</strong>tfertigung' des Mens<strong>ch</strong>en vor<br />
Gott; D. Mieth, Re<strong>ch</strong>tfertigung und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 64 ff.<br />
130 Z.B. E. Brunner, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1943), S. 54 ff. (54): »Entwe<strong>der</strong> hat das Wort <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> den Bezug<br />
auf göttli<strong>ch</strong>e Ursetzung, den Klang des Heiligen und unbedingt Gültigen – o<strong>der</strong> aber es ist<br />
ein leerer S<strong>ch</strong>all.«; D. Mieth, Re<strong>ch</strong>tfertigung und <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1977), S. 64: »Gott allein stiftet <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>,<br />
indem er den Mens<strong>ch</strong>en vor seiner <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> re<strong>ch</strong>tfertigt.« und S. 66: »[A]llein<br />
Gott ma<strong>ch</strong>t den Mens<strong>ch</strong>en gere<strong>ch</strong>t ... <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong> lebt gere<strong>ch</strong>t aus <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> Gottes.«<br />
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