16.04.2014 Aufrufe

Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

c) Zur Wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong>keit als <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgebot<br />

Eine Folge des Habermass<strong>ch</strong>en Modells <strong>der</strong> deliberativen Politik liegt in <strong>der</strong> »festen<br />

Verknüpfung von Sozialstaatli<strong>ch</strong>keit und Beteiligung an <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Öffentli<strong>ch</strong>keit«<br />

239 . Das bedeutet zwar ni<strong>ch</strong>t, daß eine aktive wohlfahrtsstaatli<strong>ch</strong>e Politik im<br />

Sinne einer dauernden Steigerung von Sozialleistungen gefor<strong>der</strong>t wäre. Auf einen<br />

<strong>der</strong>artigen Sozialaktivismus legt die deliberative Politik keine Regierung fest. Do<strong>ch</strong><br />

gewinnt die Sozialstaatli<strong>ch</strong>keit einen auf ihre Funktionalität für die politis<strong>ch</strong>e Teilhabe<br />

gestützten Charakter. Die Würdebindung des Existenzminimums erweist si<strong>ch</strong><br />

demgegenüber als weniger bedeutsam, weil die Sozialstaatli<strong>ch</strong>keit dasselbe und<br />

no<strong>ch</strong> mehr verlangt: ni<strong>ch</strong>t nur eine Minimalunterstützung zum Überleben, son<strong>der</strong>n<br />

au<strong>ch</strong> eine relativ zu den tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Lebensbedingungen in einem Staat angemessene<br />

Güterausstattung, die die Teilnahme am politis<strong>ch</strong>en Leben ermögli<strong>ch</strong>t. Wenn nämli<strong>ch</strong><br />

Re<strong>ch</strong>tspolitik als realer Diskurs gestaltet sein muß und wenn weiter ein realer<br />

Diskurs am Ideal <strong>der</strong> vollständigen, zwangsfreien Teilnahme aller Betroffenen orientiert<br />

ist, dann muß au<strong>ch</strong>, soweit das na<strong>ch</strong> den Umständen angemessen ist, die Güterbasis<br />

dafür ges<strong>ch</strong>affen werden, daß Bürger ni<strong>ch</strong>t nur überleben, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> effektiv<br />

partizipieren können.<br />

d) Die 'deliberative Abstimmung' (J.S. Fishkin)<br />

Begreift man ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>e Politik als realen Diskurs, so liegt es nahe, die Defizite,<br />

die aus Si<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Diskurstheorie an den bestehenden politis<strong>ch</strong>en Verfahren festgestellt<br />

werden müssen, ni<strong>ch</strong>t nur dur<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>utz (öffentli<strong>ch</strong>e Meinung, Zivilgesells<strong>ch</strong>aft)<br />

und Regulierung (Massenmedien) bestehen<strong>der</strong> Instrumente zu min<strong>der</strong>n 240 , son<strong>der</strong>n<br />

au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die Einführung neuer Verfahren, die ein höheres 'diskursives Niveau'<br />

verspre<strong>ch</strong>en 241 . Abgesehen von klassis<strong>ch</strong>en direktdemokratis<strong>ch</strong>en Verfahren, wie sie<br />

vor allem in <strong>der</strong> S<strong>ch</strong>weiz verwirkli<strong>ch</strong>t sind, und einer ganzen Reihe von experimentellen<br />

Verfahren (Teleabstimmungen, Wahlanhörungen, Stadttreffen u.v.m. 242 ) kann<br />

als ein bereits gut etabliertes Beispiel das (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>s- 243 )Verfahren <strong>der</strong> 'deliberativen<br />

Abstimmung' (deliberative opinion poll model) von Fishkin angesehen werden 244 –<br />

eine Umfrage, die ni<strong>ch</strong>t die tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Meinung <strong>der</strong> Bevölkerung erfassen soll, son-<br />

239 So die Analyse von K.-H. Ladeur, Re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Ordnungsbildung unter Ungewißheitsbedingungen<br />

und intersubjektive Rationalität (1996), S. 413.<br />

240 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 455 ff. (455, 457). Vgl. oben S. 242 ff. (deliberative<br />

Politik und Regulierung <strong>der</strong> Massenmedien).<br />

241 Vgl. oben S. 242 ff. (diskursives Niveau im Konzept <strong>der</strong> deliberativen Politik).<br />

242 Na<strong>ch</strong> dem meist nordamerikanis<strong>ch</strong>en Ursprung: televote, election hearing, town meeting. Vgl.<br />

J.S. Fishkin, Democracy and Deliberation (1991), S. 95 ff. m.w.N. sowie <strong>der</strong>s., The Voice of the People<br />

(1995), S. 134 ff. – zur langen nordamerikanis<strong>ch</strong>en Tradition <strong>der</strong> Stadttreffen, bei denen einfa<strong>ch</strong>e<br />

Bürger ohne politis<strong>ch</strong>e Ämter zur Spra<strong>ch</strong>e kommen, ursprüngli<strong>ch</strong> in öffentli<strong>ch</strong>en Versammlungen,<br />

später zunehmend in Fernsehübertragungen.<br />

243 Zur Einordnung <strong>der</strong> deliberativen Abstimmung als eines realen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sverfahrens siehe<br />

J.S. Fishkin, Dialogue of Justice (1992), S. 1 ff. ('self-reflective society'), 41 ff. (Kriterien für eine akzeptable<br />

<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie), 201 ff. (deliberative Abstimmung als legitimes Verfahren).<br />

244 J.S. Fishkin, Democracy and Deliberation (1991), S. 81 ff.; <strong>der</strong>s., The Voice of the People (1995),<br />

S. 161 ff. – deliberative poll. Konkrete Verfahren wurden bisher, soweit ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, nur in Großbritannien<br />

und in den U.S.A. dur<strong>ch</strong>geführt.<br />

355

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!