Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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In den Konsequenzen <strong>der</strong> Rationalitätskritik grenzt si<strong>ch</strong> MacIntyre von <strong>Theorien</strong><br />
<strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Tradition ab 135 . Die traditionsgebundene Rationalität bedeute<br />
no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Relativismus in dem Sinne, daß zwis<strong>ch</strong>en rivalisierenden Traditionen keine<br />
Argumentation mögli<strong>ch</strong> sei und deshalb überhaupt keine rationale Begründbarkeit<br />
mehr bestehe, und au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Perspektivismus in dem Sinne, daß man aus einer Tradition<br />
heraus keine allgemeinen Ri<strong>ch</strong>tigkeitsansprü<strong>ch</strong>e erheben könne 136 . Denn die<br />
größtdenkbare Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Wahrheit liege ni<strong>ch</strong>t in <strong>der</strong> immerwährenden Korrespondenz<br />
einer Vorstellung zu Tatsa<strong>ch</strong>en (Korrespondenztheorie <strong>der</strong> Wahrheit),<br />
son<strong>der</strong>n allein in <strong>der</strong> gegenwärtigen und dialektis<strong>ch</strong> so weit wie mögli<strong>ch</strong> gegen Einwände<br />
abgesi<strong>ch</strong>erten Behauptung 137 . Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Wahrheit unterliegen damit<br />
einer ständigen Entwicklung, werden innerhalb einer Tradition immer aufs Neue getestet,<br />
und können sogar dazu führen, daß eine Tradition, die si<strong>ch</strong> in einer Erkenntniskrise<br />
(epistemological crisis) befindet, Erklärungsmodelle einer konkurrierenden<br />
Tradition übernimmt 138 . Standpunkte innerhalb einer Tradition wie au<strong>ch</strong> die Traditionen<br />
selbst sind also falsifizierbar 139 . Es gibt Forts<strong>ch</strong>ritt in <strong>der</strong> Erkenntnis. Einzelne<br />
Behauptungen sind we<strong>der</strong> (relativistis<strong>ch</strong>) alle glei<strong>ch</strong> unbegründet no<strong>ch</strong> (perspektivistis<strong>ch</strong>)<br />
auf die Mitglie<strong>der</strong> einer Traditionsgemeins<strong>ch</strong>aft bes<strong>ch</strong>ränkt 140 .<br />
MacIntyre vertritt damit einen 'lebendigen' Traditionsbegriff, <strong>der</strong> Traditionstreue<br />
we<strong>der</strong> als Gegensatz zum Konfikt no<strong>ch</strong> als sol<strong>ch</strong>en zur Vernunft sieht 141 . Traditionen<br />
verkörpern historis<strong>ch</strong> erweiterte Argumentation und kontinuierli<strong>ch</strong>e Konflikte. Sie<br />
leben von <strong>der</strong> Ausübung <strong>der</strong> in ihnen relevanten Tugenden. Der anspru<strong>ch</strong>svolle Tugendbegriff<br />
läßt bereits erkennen, daß na<strong>ch</strong> MacIntyre »mo<strong>der</strong>ne Politik keine Sa<strong>ch</strong>e<br />
mit wirkli<strong>ch</strong>em moralis<strong>ch</strong>em Konsens sein kann« 142 . Zwar könne es eine traditionsgere<strong>ch</strong>te<br />
und damit legitime Regierungsform geben, weil die Dur<strong>ch</strong>setzung <strong>der</strong> Gesetze,<br />
die Si<strong>ch</strong>erung von Großzügigkeit und Freiheit sowie die Beseitigung von Ungere<strong>ch</strong>tigkeiten<br />
eine regierungsförmige Organisation erfor<strong>der</strong>e. Mo<strong>der</strong>ne Staaten –<br />
glei<strong>ch</strong> ob liberal, kon<strong>servat</strong>iv, radikal o<strong>der</strong> sozialistis<strong>ch</strong> – drückten aber in ihren institutionellen<br />
Formen – beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Billigung von Individualismus und Habsu<strong>ch</strong>t<br />
phie und einem Jahrhun<strong>der</strong>t Soziologie no<strong>ch</strong> immer jede einheitli<strong>ch</strong>e, rational vertretbare Darlegung<br />
eines liberalen, individualistis<strong>ch</strong>en Standpunktes; und an<strong>der</strong>erseits kann die aristotelis<strong>ch</strong>e<br />
Tradition auf eine Weise neu formuliert werden, die die Verständli<strong>ch</strong>keit und Rationalität unserer<br />
moralis<strong>ch</strong>en und sozialen Haltungen und Verpfli<strong>ch</strong>tungen wie<strong>der</strong>herstellt.«<br />
135 A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 353, 368.<br />
136 Vgl. A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 352 f.<br />
137 A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 358. Hier zeigt si<strong>ch</strong> eine auffällige Übereinstimmung zum<br />
Wahrheits- und Ri<strong>ch</strong>tigkeitsbegriff <strong>der</strong> Diskurstheorie, auf den no<strong>ch</strong> einzugehen sein wird (unten<br />
S. 291 ff. – Kritik am Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>). MacIntyre spri<strong>ch</strong>t indes ni<strong>ch</strong>t von diskursiver o<strong>der</strong><br />
kommunikativer, son<strong>der</strong>n von traditionsbegründeter Erkenntnis (tradition-constituted enquiry,<br />
S. 360). Sie folgt dem Gedanken einer letztendli<strong>ch</strong>en Wahrheit, über <strong>der</strong>en Erkennen si<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
Geist nie gewiß sein kann (S. 360 f.). Vgl. unten S. 291 ff. (Kritik des Ri<strong>ch</strong>tigkeitsanspru<strong>ch</strong>s in Diskurstheorien;<br />
Korrespondenz- und Konsensustheorien).<br />
138 A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 358 ff. (364 f.).<br />
139 Zum hier verwendeten Falsifikationsbegriff unten S. 264, Fn. 20.<br />
140 Vgl. A. MacIntyre, Whose Justice? (1988), S. 366 ff.<br />
141 Ausführli<strong>ch</strong>e Abgrenzung vom Traditionsbegriffs Burkes in A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend<br />
(1984), S. 296 f.<br />
142 A. MacIntyre, Verlust <strong>der</strong> Tugend (1984), S. 337.<br />
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