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Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

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II.<br />

Zur Kritik an <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis<br />

Gegen die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sskepsis in <strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en Grundposition<br />

läßt si<strong>ch</strong> erstens einwenden, daß sie die weitgehende Übereinstimmung in einzelnen<br />

Fragen des ri<strong>ch</strong>tigen Handelns ni<strong>ch</strong>t zu erklären vermag, und zweitens, daß au<strong>ch</strong><br />

Skeptiker si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in Beliebigkeit flü<strong>ch</strong>ten können, son<strong>der</strong>n für die realen Gestaltungsaufgaben<br />

<strong>der</strong> sozialen Ordnung eine Antwort finden müssen, die wie<strong>der</strong>um<br />

ni<strong>ch</strong>t ohne normative Vorgaben auskommt. Der erste Einwand läßt si<strong>ch</strong> am Skeptizismus<br />

Kelsens, <strong>der</strong> zweite an demjenigen Hayeks illustrieren. Die Einwände gelten<br />

aber allgemein für alle 'Antitheorien' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> in <strong>der</strong> nietzs<strong>ch</strong>eanis<strong>ch</strong>en<br />

Grundposition.<br />

Zum ersten Einwand: Der re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>e Relativismus Kelsens kann ni<strong>ch</strong>t erklären,<br />

warum zumindest im Berei<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tsstaatli<strong>ch</strong>er Verfahrensgrundsätze weitgehende,<br />

au<strong>ch</strong> international und über lange historis<strong>ch</strong>e Zeiträume festzustellende Einigkeit<br />

darüber besteht, was gere<strong>ch</strong>t und was ungere<strong>ch</strong>t ist. Der Grundsatz, im Streit au<strong>ch</strong><br />

die an<strong>der</strong>e Seite anzuhören (audiatur et altera pars), und das Verbot, in eigener Sa<strong>ch</strong>e<br />

zu ri<strong>ch</strong>ten (nemo iudex in sua causa), sind Beispiele für unstreitige <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />

im Verfahrensre<strong>ch</strong>t 25 . In auffälliger Weise bes<strong>ch</strong>ränkt Kelsen seine Kritik auf<br />

die Unbestimmtheit formaler Klugheitsregeln über die ri<strong>ch</strong>tige Verteilung 26 – eine<br />

Unbestimmtheit, die von neueren <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien überhaupt ni<strong>ch</strong>t bestritten<br />

wird. Die 'Globalwi<strong>der</strong>legung' <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, die Kelsen dur<strong>ch</strong> einen Angriff auf<br />

die inhaltli<strong>ch</strong>e Beliebigkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sformeln versu<strong>ch</strong>t, geht fehlt, weil die<br />

Formelhaftigkeit nur eine Selbstverständli<strong>ch</strong>keit ausdrückt 27 . Der Relativismus Kelsens<br />

abstrahiert ni<strong>ch</strong>t nur von inhaltli<strong>ch</strong>en Bestimmungsversu<strong>ch</strong>en, son<strong>der</strong>n übersieht<br />

vor allem das Phänomen <strong>der</strong> prozeduralen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 28 und kann infolgedessen<br />

die inhaltsunabhängige Ri<strong>ch</strong>tigkeit bestimmter Verfahrensnormen ni<strong>ch</strong>t adäquat<br />

berücksi<strong>ch</strong>tigen. Das ist um so erstaunli<strong>ch</strong>er, als Kelsen selbst in seiner Demokratietheorie<br />

ein ausgefeiltes System ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgen<strong>der</strong> Verfahrensgarantien<br />

vors<strong>ch</strong>lägt 29 , die allerdings bei ihm in die wertrelativistis<strong>ch</strong>e Prämisse einbezogen<br />

sind und deshalb keinen höheren Anspru<strong>ch</strong> auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit erheben können als Regeln<br />

autokratis<strong>ch</strong>er Systeme 30 . Wenn Verfahrensregeln aber bloß als neutrale Rückzugsposition<br />

angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> Unents<strong>ch</strong>eidbarkeit von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sfragen fungieren,<br />

dann verfehlt das ihre Bedeutung in realen Verfahren: dort sollen sie ni<strong>ch</strong>t nur Neutralitäts-,<br />

son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeitsgarantien sein. Der Ri<strong>ch</strong>ter hört ni<strong>ch</strong>t nur deshalb<br />

beide Seiten an, weil er damit seine institutionelle Unparteili<strong>ch</strong>keit beweisen<br />

kann, son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong>, weil das einer im Ergebnis ri<strong>ch</strong>tigen Ents<strong>ch</strong>eidung, mithin <strong>der</strong><br />

25 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 43. Zum umfangrei<strong>ch</strong>en Bestand sol<strong>ch</strong>er Prinzipien<br />

vgl. oben S. 118 (prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und natural justice).<br />

26 Dazu oben S. 145 (Theorie des re<strong>ch</strong>tsethis<strong>ch</strong>en Relativismus).<br />

27 F. Bydlinski, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als re<strong>ch</strong>tspraktis<strong>ch</strong>er Maßstab (1996), S. 108 f.<br />

28 Dazu oben S. 121 (D 3 ' – diejenige För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ergebnisgere<strong>ch</strong>tigkeit, die unter den Anwendungsbedingungen<br />

eines als gere<strong>ch</strong>tigkeitsför<strong>der</strong>nd begründeten Verfahrens dur<strong>ch</strong> die korrekte<br />

Einhaltung <strong>der</strong> Verfahrensregeln errei<strong>ch</strong>t wird).<br />

29 Vgl. zur Demokratietheorie Kelsens insbeson<strong>der</strong>e H. Dreier, Re<strong>ch</strong>tslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie<br />

bei Hans Kelsen (1990), S. 249 ff. m.w.N.<br />

30 H. Dreier, Re<strong>ch</strong>tslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1990), S. 278 f.<br />

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