Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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s<strong>ch</strong>e Wende in Rawls <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie auswirkt und dadur<strong>ch</strong> zum eigentli<strong>ch</strong>en<br />
Charakteristikum <strong>der</strong> neueren Theorie wird. Um das zu zeigen, sei zunä<strong>ch</strong>st hervorgehoben,<br />
inwiefern die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung in <strong>der</strong> ursprüngli<strong>ch</strong>en Theorie unbefriedigend<br />
war, um dann darzustellen, wel<strong>ch</strong>e Antwort <strong>der</strong> übergreifende Konsens<br />
in <strong>der</strong> neuen Theorie auf dieses Begründungsdefizit gibt.<br />
Inwieweit war die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegründung in <strong>der</strong> ursprüngli<strong>ch</strong>en Theorie unbefriedigend?<br />
Die Begründung stützte si<strong>ch</strong> im Kern auf die oben ges<strong>ch</strong>il<strong>der</strong>te Herleitung<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sgrundsätzen aus einem als 'fair' konzipierten Urzustand. Die<br />
Wahl <strong>der</strong> Grundsätze beruhte dabei nur formal auf ents<strong>ch</strong>eidungstheoretis<strong>ch</strong>en<br />
Überlegungen in Anwendung <strong>der</strong> Maximin-Regel; inhaltli<strong>ch</strong> hing alles davon ab, wie<br />
<strong>der</strong> Urzustand definiert wurde 401 . Methodis<strong>ch</strong> ist daran unbefriedigend, daß letztli<strong>ch</strong><br />
genau das als Ergebnis herauskommt, was dur<strong>ch</strong> die Konstruktion eines S<strong>ch</strong>leiers<br />
des Ni<strong>ch</strong>twissens zuvor angelegt wurde. Deshalb hat Rawls s<strong>ch</strong>on in <strong>der</strong> ursprüngli<strong>ch</strong>en<br />
Theorie zusätzli<strong>ch</strong> eine intuitive Plausibilisierung <strong>der</strong> Bedingungen des<br />
Urzustandes im Rahmes des Überlegungsglei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>ts (reflective equilibrium) eingeführt,<br />
die das theoretis<strong>ch</strong>e Ergebnis absi<strong>ch</strong>ern sollte 402 . Dana<strong>ch</strong> sind die Bedingungen<br />
zu modifizieren, falls sie zu Ergebnissen führen würden, die mit den aus<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>em <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>ssinn entspringenden wohlüberlegten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>surteilen<br />
(consi<strong>der</strong>ed moral judgments) ni<strong>ch</strong>t mehr im Einklang stehen. Die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien<br />
sind dana<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr nur deshalb ri<strong>ch</strong>tig, weil sie in einem fairen<br />
Urzustand gewählt würden, son<strong>der</strong>n sie sind au<strong>ch</strong> deshalb ri<strong>ch</strong>tig, weil sie mit den<br />
reflektierten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen übereinstimmen. Methodis<strong>ch</strong> unbefriedigend<br />
ist dabei, daß für die eigentli<strong>ch</strong>e Begründungleistung auf Überzeugungen verwiesen<br />
wird, die außerhalb <strong>der</strong> Theorie liegen. Inhaltli<strong>ch</strong> unbefriedigend ist, daß die<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen je na<strong>ch</strong> sozialer Gruppe so fundamental unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong><br />
ausfallen können, daß ein für alle begründbares Überlegungsglei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t unerrei<strong>ch</strong>bar<br />
ers<strong>ch</strong>eint. Au<strong>ch</strong> mit den Ausführungen zur politis<strong>ch</strong>en Stabilität seiner <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzeption<br />
konnte Rawls diese Argumentationslücke ni<strong>ch</strong>t ausfüllen,<br />
weil Stabilitätsgesi<strong>ch</strong>tspunkte allein na<strong>ch</strong> seiner eigenen Auffassung ni<strong>ch</strong>ts zur Begründung<br />
beitragen 403 .<br />
Wel<strong>ch</strong>e Antwort gibt nun <strong>der</strong> übergreifende Konsens auf dieses Begründungsdefizit?<br />
Zunä<strong>ch</strong>st wird von Rawls zugestanden, daß die konfligierenden umfassenden<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>svorstellungen (comprehensive doctrines) au<strong>ch</strong> in Zukunft immer unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong><br />
bleiben werden. Als Konsequenz bes<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> die neue Theorie mit einer<br />
Rolle als freistehende Konzeption <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (freestanding<br />
401 Dazu oben S. 180 ff. (Theorie <strong>der</strong> Maximin-Wahl).<br />
402 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 9, S. 48 ff. (49 f.): »[J]ustice as fairness can be un<strong>der</strong>stood as<br />
saying that the two principles ... give a better mat<strong>ch</strong> with our consi<strong>der</strong>ed judgments on reflection<br />
than these recognized alternatives [of utility and perfection]«; <strong>der</strong>s., Political Liberalism (1993),<br />
S. 8: »We collect su<strong>ch</strong> settled convictions as the belief in religious toleration and the rejection of<br />
slavery ... These convictions are provisional fixed points that it seems any reasonable conception<br />
must account for. ... We express this by saying that a political conception of justice, to be acceptable,<br />
must accord with our consi<strong>der</strong>ed convictions, at all levels of generality, on due reflection, or<br />
in what I have called elsewhere 'reflective equilibrium'.«<br />
403 J. Rawls, Theory of Justice (1971), § 69, S. 455: »To be sure, the criterion of stability is not decisive.«<br />
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